Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
Überwältigung, diese Erleichterung. In keinem anderen Moment meines Lebens gibt es etwas Vergleichbares wie dieses besonders reine Glücksgefühl, das ungetrübte Einfach-nur-Sein. Hier oben und nur hier oben im Ring, nach dem Sieg, mischt sich kein negatives Gefühl dazu, kein Zweifel, keine Unsicherheit, keine Furcht, kein Schatten. Ich bin ganz in meiner Mitte, ganz bei mir. Nur hier und jetzt gibt es keine anderen Wünsche und Träume, weil hier der Traum gerade Wirklichkeit ist.
Ich bin Rola, die oben im Ring steht und genießt. Da ist eine ältere Frau im Publikum, die lacht mich an. Mein kleiner Bruder springt um mich herum. Fremde kommen und gratulieren. Leuchtende Gesichter. So viele Menschen, von denen ich Anerkennung bekomme. Menschen, die mir vielleicht früher etwas Schlechtes gewünscht haben. Anerkennung zu bekommen, das tut einfach gut. Ich kann all diesen Leuten zeigen: »Ich habe es geschafft.«
Es ist dieses Gefühl, das mich trainieren lässt, die Schmerzen ertragen, all die Mühen auf mich nehmen lässt. Es ist so besonders, dass ich alles dafür gebe. Und nichts dafür tauschen würde.
Leider dauert das Gefühl nur so lange, bis die Schmerzen kommen. Und die kommen schnell. Die Verspannungen und den Muskelkater von meinen eigenen Schlägen und der ganzen Anspannung spüre ich schon, bevor ich ganz aus der Halle draußen bin. Und wenn die Dopingkontrolle kommt, ist das Gefühl schon wieder ganz vorbei.
Zu Besuch im Libanon
Mein erster WM-Kampf wurde in Deutschland nur vom Ulmer Lokalfernsehen RegioTV aufgezeichnet. Sie stellten einen halbstündigen Zusammenschnitt her und sendeten diesen am Montag nach meinem Kampf 24 Stunden lang in Dauerwiederholung. Dafür bekam ich viel Feedback. Ungleich größer war das Feedback allerdings aus dem Libanon, denn dort achtete man sehr auf meine sportlichen Erfolge; Presse und Fernsehen berichteten von meinen Kämpfen. Auch der WM-Kampf war ein großes Thema, im Fernsehen und auf den Titelseiten der Zeitungen. Sogar im gesamtarabischen Nachrichtensender Al-Jazeera liefen Berichte über meinen Kampf. Den nächsten Kampf übertrug Al-Jazeera übrigens live, und 22 Millionen Menschen sahen zu.
Die großen deutschen Sender interessierten sich nicht für die Übertragungsrechte, aber im arabischen Raum und besonders im Libanon war das Medieninteresse an mir seit meiner ersten Europameisterschaft sehr groß. Eine Libanesin, die in Deutschland lebt und Erfolg als Boxerin hat – das ist eine große Geschichte für die dortigen Medien, überhaupt in der arabischen Welt. Als Weltmeisterin wurde ich dort demzufolge entsprechend gefeiert.
Doch schon vor dem WM-Kampf war das Medieninteresse groß. Man hatte auch schon die früheren Erfolge wahrgenommen, und die arabischen Medien begleiteten meine sportliche Karriere.
So kam es, dass ich nur durch meinen sportlichen Erfolg das Heimatland meiner Eltern und mein Geburtsland wiedersah, als ich schon 22 Jahre alt war. Libanesische Medien luden mich zu Interviews ein, um mich der libanesischen und damit der arabischen Welt vorzustellen, und das noch vor meinem ersten WM-Kampf.
Für drei Tage waren mein Vater und ich also in Beirut. Weihnachten und das islamische Fest Bayram, das Ende des Fastenmonats Ramadan, fielen in diesem Jahr auf die gleiche Zeit, daher war im gesamten Libanon Partystimmung – denn die eine Hälfte der Libanesen sind Christen, die andere Muslime. In den drei Tagen, die wir dort waren, sahen wir fast nichts vom Land außer Redaktionen, Studios, Verkehrsstaus und feiernde Menschen. Auf dieser Reise lernte ich einige meiner Verwandten erstmals kennen.
Das Interesse war riesig, obwohl es auch im Libanon Frauen gibt, die Kampfsport trainieren, ich also in dieser Hinsicht keine Exotin bin. Boxen, Thaiboxen, Taekwondo. Kampfsport ist im Libanon beliebt, es gibt inzwischen sogar Freefight – Kämpfe in Käfigen, bei denen die Gegner Techniken aus den verschiedensten Kampfsportarten einsetzen dürfen. Ein sehr ehrlicher Sport, wie ich finde, denn jeder darf seinen Stil kämpfen, ob stehend oder im Bodenkampf. So kann jeder seine Fähigkeiten und Stärken einbringen. Ob libanesische Frauen schon Freefight trainieren, weiß ich nicht, aber in den anderen Kampfkünsten gibt es viele von ihnen. Das merkte ich allein schon an den vielen Zuschriften, die ich nach der Reise auf meiner Facebook-Seite bekam. Die meisten Zuschriften waren von Frauen. Sie waren begeistert von mir, nannten mich »den Stolz des
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