Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
Libanon«. Vom Libanon gesehen und erlebt habe ich bei dieser kurzen Reise allerdings nichts.
Im darauffolgenden Sommer, als ich bereits Weltmeisterin war, reisten meine Mutter und ich nochmals in den Libanon, diesmal für drei Wochen. Diese Reise war für mich ein absoluter Kulturschock. Im Libanon merkte ich erst, wie deutsch ich bin und wie schwer es mir fiel, mit der libanesischen Alltagsmentalität klarzukommen.
Wenn ich mich etwa hier in Deutschland für 18 Uhr verabrede, bin ich spätestens um 18.05 Uhr da, allerspätestens um 18.10 Uhr und dann mit Entschuldigung. So kenne ich es. Im Libanon kommen die Leute um 19 oder 20 Uhr, wenn sie denn überhaupt eine Uhrzeit ausgemacht haben. Meistens heißt es ja nur: »Wir treffen uns heute Abend.« Und dann gehen die Telefoniererei und die Warterei los, bis man sich dann vielleicht irgendwann irgendwie irgendwo trifft oder auch nicht.
Genauso planlos war meines Erachtens das ganze Leben. Gemütlichkeit ist schön und gut, aber mir schien es, als ob die Menschen einfach so in den Tag hineinlebten, aus dem Gefühl heraus, ohnehin keine Perspektive zu haben. Ein wenig kann ich das verstehen, denn mit der ständigen Kriegsgefahr im Hintergrund ist man wenig motiviert, sich etwas aufzubauen, das einen Monat später schon wieder in Schutt und Asche liegen kann. Wer sich im Libanon etwas aufbaut, geht ein hohes Risiko ein – was ich bewundere, denn ich gebe zu, auch mir würde das sehr schwerfallen. Ich bin kein risikoliebender Mensch. Die Lebenseinstellung, einfach alles laufen zu lassen, passt aber genauso wenig zu mir.
Das ständige Verkehrschaos fand ich ebenfalls extrem anstrengend. Der ewige Stau, das Gehupe, das machte mich verrückt. Im libanesischen Straßenverkehr gibt es kein System. Wenn einer die Autobahnausfahrt verpasst, setzt er eben einfach kurz zurück, und die rote Ampel wird eher als Vorschlag verstanden denn als Gesetz.
Meine Verwandten nicht nur kurz zu sehen, sondern auch richtig kennenzulernen gefiel mir natürlich sehr gut. Die langen, schönen Sommerabende genoss ich sehr: Wir saßen oft einfach gemütlich beisammen, es gab leckeres Essen, und alle waren ganz entspannt. Meine Mutter hat elf Geschwister, und jede Familie hat viele Kinder, da waren also jede Menge Leute, dich mich sehen wollten. Sie schienen mir sehr vertraut. Ich bin ja mit der libanesischen Küche und mit der libanesischen Mentalität aufgewachsen, mit dem typischen Familiensinn, der Wertschätzung der Eltern, dem Respekt vor den Älteren und den konservativen Werten. Dies alles ist natürlich nicht rein libanesisch oder arabisch, sondern eher allgemein südländisch. Auch in Italien und Griechenland werden Familienleben und Familienzusammenhalt ja sehr geschätzt. Da geht man mit 18 Jahren nicht einfach aus dem Haus und tut, was man will. Die enge Gebundenheit an die Familie, die einen ein wenig vom Rest der Gesellschaft entrücken kann, habe ich dennoch als einen libanesischen Aspekt meiner Erziehung verstanden.
Wir besuchten die Verwandten in Beirut, reisten aber auch nach Tripoli im Norden und ein wenig die Küste entlang bis nach Sidon im Süden. Wunderschöne Landschaften gibt es dort, leider sah ich nicht sehr viel davon. In den libanesischen Bergen war ich bisher noch nie. Nach einer Woche Libanon hatte ich aber schon genug und begann, die Tage bis zur Rückkehr zu zählen. Das lag an der mörderischen Sommerhitze. Ohne Klimaanlage ist dieses Land im Sommer nicht zu ertragen, aber es gibt immer noch Probleme mit der Stromversorgung. Manchmal war der Strom stundenlang weg. Darauf konnte ich mich nicht einstellen. Wenn ich mein Handy aufladen wollte, musste ich warten, bis zufällig mal wieder Strom aus der Steckdose kam.
Es lag an diesem Chaos und an der Mentalität, an die ich mich einfach nicht gewöhnen konnte, dass ich mich im Libanon insgesamt nicht wirklich wohlfühlte – obwohl es ein wunderschönes, verrücktes Land ist.
Allein Beirut zeigt, wie vielfältig und auch wie modern der Libanon ist. Downtown, in der Stadtmitte, hat man das Gefühl, im Westen zu sein. Da reihen sich Pubs neben Bars und Diskotheken. Zwei Straßen weiter steht eine Moschee, wieder zwei Straßen weiter eine Kirche, und man denkt für einen Moment, dass alles friedlich nebeneinander existiert. Man spürt in diesen Gegenden, warum der Libanon früher die »Schweiz des Nahen Ostens« genannt wurde. Es ist ein wunderschönes Land, und seine Bürger bauen es nach jedem Krieg und
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