Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
umgesetzt habe, wie wir es wollten.« Ich höre aber auch heraus, wenn es gut läuft und er will, dass ich genau so weitermache. Oder wenn er will, dass ich über meine Grenzen hinausgehe. Wenn er weiß, dass ich gerade alles gegeben habe, und er trotzdem sagt: »Komm, leg noch eine Schippe drauf.« Das nehme ich ihm nicht übel, denn ich weiß – er sagt das nicht, weil er findet, dass ich zu wenig gegeben habe, sondern weil er glaubt, dass da noch mehr drin ist.
Jürgen und Tommy, meine Trainer, wissen genau, wie sie mich motivieren können, aber das meiste hole ich selbst aus mir heraus. Ich bin ein absoluter Gefühlsmensch, ich arbeite mit Gefühlen und lebe für Gefühle. Das Gefühl, als Siegerin im Ring zu stehen, ist es, das mich im Training bis über meine Grenzen hinweggehen lässt. Das mich alle Mühen, auch Schmerzen, ertragen lässt. Denn wenn ich wieder oben im Ring stehe, weiß ich, warum ich das alles gemacht habe. Für diesen einen Moment des Sieges brenne ich.
Der erste WM-Kampf
Mein erster Weltmeisterschaftskampf am 5. Juni 2009 war Chaos pur, schon im Vorfeld des eigentlichen Kampfes. Wenn auch positives Chaos. Ich war einerseits plötzlich am Ziel meiner Wünsche angelangt und hatte das erste Mal die Chance, um zwei WM-Gürtel gleichzeitig zu boxen, die der Weltverbände WIBF (Women’s International Boxing Federation) und WIBA (Women’s International Boxing Association), zwei der wichtigsten Weltverbände im Frauenboxen.
Andererseits musste ich die ganze Veranstaltung selbst organisieren. Normalerweise kümmert sich der Boxstall um alles rund um einen solchen Kampf, während sich die Boxerin oder der Boxer auf das Training konzentriert, das der Boxstall natürlich auch speziell auf den Kampf und die Gegnerin zuschneidet. Das kannte ich aber schon von meinen anderen Kämpfen, von der Europameisterschaft 2007 gegen Charlotte Baumgarten etwa, meinem ersten großen Profi-Kampf. All das konnte ich aber nicht ganz allein stemmen – ich brauchte die Hilfe meines Vaters, um es möglich zu machen.
Mein Vater kümmerte sich also hauptsächlich um den Event, und ich hatte die Aufgabe, mich auf eine als unangenehm bekannte Gegnerin einzustellen: die Spanierin Loly Muñoz. Jede in der Szene und in unserer Gewichtsklasse – Leichtgewicht, bis 61,23 Kilogramm – mied Loly, weil sie wirklich sehr, sehr schwierig zu boxen ist. Sie hat einen richtig ekelhaften Boxstil, und man kann mit ihr im Ring einfach nicht gut aussehen oder mit der eigenen technischen Raffinesse glänzen. Lolys Stil ist technisch nicht perfekt oder gar wie aus dem Lehrbuch, sondern eher unorthodox, mit vielen überraschenden Aktionen. Und sie kämpft bis zur letzten Minute mit aller Kraft.
Der Kampf fand in Ulm statt, und hier wussten die Leute lange Zeit nichts mit Boxen anzufangen. Henry Maske hatte den Sport zwar bereits verändert, aber der Imagewandel hatte es 2009 noch nicht bis nach Ulm geschafft. Ich kannte das von meinen früheren Kämpfen, etwa dem Europameisterschaftskampf 2007 im Blautal-Center, einem Einkaufszentrum: Die breite Akzeptanz und Begeisterung waren noch nicht da. Die Leute dachten leider immer noch: »Boxen – da sitzen doch nur mit Goldkettchen behängte Zuhälter in der ersten Reihe.« Wie es eben auch lange Zeit gewesen war.
Man kann sich das heute ja kaum noch vorstellen, denn wenn einer der Klitschko-Brüder boxt, wird der Kampf im Fernsehen übertragen, und man sieht die Crème de la Crème der deutschen Prominenz in der ersten Reihe sitzen. Aber Ulm ist eben nicht Hamburg oder München. In meiner geliebten Heimatstadt war es 2009 noch gar nicht angesagt, sich einen Boxkampf anzusehen. Die Schwaben möchten von etwas Neuem eben erst nachhaltig überzeugt werden. Und das versuchte ich, mit viel Engagement und Nachdruck. Denn am Ticketverkauf hing, genau wie an den Sponsoren, die Finanzierung des Kampfes. Als unser eigenes Team trugen wir auch das volle finanzielle Risiko für die Veranstaltung. Ein großer Boxstall kann eher mal etwas abfedern, das nicht optimal gelaufen ist, wir aber hatten diese Freiheit nicht. Kein großer Fernsehsender wollte die Übertragungsrechte für meinen Kampf kaufen; in dieser Zeit liefen nur die Kämpfe von Regina Halmich oder Susi Kentikian im Fernsehen, wenn überhaupt. Für eine perfekte Großveranstaltung fehlte uns das Geld. Ich hatte auch keinen großen Hauptsponsor, sondern ein Budget aus den Beiträgen vieler kleinerer Sponsoren, die fast alle aus der
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