Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
der Schlag überhaupt kommt. Aber ob erwartet oder überraschend, ich kann mittlerweile ganz gut damit umgehen, wenn ich eine verpasst bekomme. Körperlich und seelisch. Zu lernen, mit Treffern umzugehen, ist wichtig, im Ring wie im Alltag. Am Anfang tun sie richtig weh, auch am nächsten Tag noch. Dann dröhnt der Kopf und zieht der Rücken. Mit der Zeit wird der Schmerz weniger wichtig, und auch die Folgen sind weniger schwer.
Nach dem, was mir passiert ist, gehe ich heute mutiger denn je in den Kampf. In jeden Kampf. Das Schlimmste, das ich mir vorstellen konnte, ist schon geschehen, und ich habe nicht nur überlebt, sondern habe mich durchgekämpft, gegen den Schmerz in der Seele, in den Beinen, in der Hand. Ja, ich spüre ihn noch, aber ich kämpfe weiter. Weil es geht. Weil es immer weitergeht, wenn man es will.
Die Suche nach Gerechtigkeit
Obwohl mein Vater keine Macht mehr über mich hatte, fürchtete ich mich vor dem Prozess. Die Monate davor hatte ich so viel gelitten, dass ich körperlich und seelisch ein kaputter Mensch war. Zu Prozessbeginn wusste ich noch nicht, wie es mit mir weitergehen würde, wie ich mein neues, freies Leben würde gestalten können. Ich kämpfte und litt, war noch dabei, die Scherben meines Selbst aufzusammeln und mich neu zu erbauen. Mitten in dieser Phase sollte ich also meinem Vater wieder gegenübersitzen, und davor hatte ich Angst.
Unbedingt erforderlich war meine Anwesenheit vor Gericht nur für meine Aussage, aber dabei wollte ich es nicht bewenden lassen. Ich wollte den gesamten Prozess begleiten, um zu sehen, was dort in dem Berliner Gerichtssaal passierte, wer aussagte und wer nicht, was gesagt wurde und wie alles ablief. Ich konnte einfach nicht abwesend sein und alles anderen überlassen, sondern ich wollte dabei sein und alles hören, gerade nach den vielen menschlichen Enttäuschungen der vergangenen Monate. Und ich wollte dabei sein, weil ich die Einzige bin, die wirklich weiß, wie es war, was passiert ist und wie es dazu kommen konnte.
Der belastenden Situation aus dem Weg zu gehen kam für mich daher nicht in Frage. Ich bin jemand, der sich stellt, und erhoffte mir von der Verhandlung auch, dass sie mir auf die eine oder andere Art und Weise guttun und meinen seelischen Heilungsprozess fördern würde. Dennoch hatte ich in den Wochen vor dem Prozess massive Schlafstörungen. Die Angst davor, meinem Vater wiederzubegegnen, und die Vorstellung, wie es wohl sein würde, verfolgten mich bis in die Nacht. Auch fürchtete ich, dass es für mich sehr unangenehm werden könnte, meine Geschichte in der Öffentlichkeit dieses Saales erzählen zu müssen, vor all den fremden Menschen und der Presse. Ich ahnte auch, dass mein Vater sich im Gericht öffentlich entschuldigen würde, und sogar davor fürchtete ich mich, weil ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren würde. Persönlich entschuldigt hatte er sich bei mir nämlich noch nicht. Kein einziges Wort, keine einzige Botschaft hatte er mir übermittelt.
In dem Prozess war ich aber nicht nur Zeugin, sondern auch Nebenklägerin. Ich stellte mich der Situation mit voller Breitseite. Kosta und ich reisten also Ende September 2011 nach Berlin. Die Verhandlung fand im Saal 700 des Landgerichts Berlin-Moabit statt. Der erste Verhandlungstag war der schlimmste, denn das Gerichtsgebäude war von Presse und Fernsehen umlagert. Alle hofften auf ein Foto von mir und auch eines von Kosta, am besten eines von uns zusammen. Ich wurde jedoch unerkannt durch den Zeugeneingang an der Rückseite des Gebäudes hineingeschleust. Kosta ging durch den normalen Eingang, denn er ist den Medien nicht bekannt, da er sich stets geweigert hatte, Interviews zu geben oder in Talkshows zu gehen. In dieser Zeit war ich ebenfalls schon sehr vorsichtig mit Interviews und wollte nicht zu präsent sein. Es schrieb ohnehin jeder über mich, was er wollte, ich gab aber keine direkten Stellungnahmen mehr ab.
Kosta setzte sich ganz leise, aber gut sichtbar nach hinten in den Gerichtssaal. Mir war wichtig, dass mein Vater ihn sah, damit er verstand: Er hat es nicht geschafft, uns beide zu trennen. Gott hat Kosta und mich zusammengebracht und wollte, dass wir zusammen sind – da kann kein Mensch kommen und sagen, er möchte das nicht. Dieses Zeichen wollten wir meinem Vater vom ersten Moment der Verhandlung an geben.
Ich saß mit meinem Anwalt vorne auf der Seite der Staatsanwaltschaft, es war ein Riesentrubel im Raum. Als mein Vater in den Saal kam,
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