Stehaufmaennchen
Zimmer von Oberstudienrat Meurer und höre mir einen lauten Vortrag über Verrohung und sittlichen Verfall an. Und dass ich ein asoziales Element sei und er in Erwägung ziehe, einen solchen Abschaum wie mich der Schule zu verweisen. Ein paar Ohrfeigen wären mir lieber gewesen.
Mittags schleiche ich mit zittrigen Knien nach Hause. Habe jetzt schon Angst vor dem nächsten Schultag. Und dem darauf folgenden. Und den anderen, die danach noch kommen.
Schule war nie mein Ding und wird es wohl auch nie werden.
15. Erste Liebe
6. November 1974
Leide unter Appetitlosigkeit. Mehr als zwei halbe Hähnchen krieg ich nicht mehr runter. Jedenfalls nicht nach dem Abendbrot. Bin besorgt. Ist das normal für einen vierzehn Jahre alten jungen Mann? Was ist nur mit mir los?
7. November 1974
Ich glaube, ich bin verliebt. In das Mädchen von gegenüber – Anja. Stehe sechs Stunden hinter der Gardine und beobachte sie. Bin traurig, denn sie scheint unerreichbar zu sein.
8. November 1974
Leihe mir von Papa ein Fernglas. Jetzt sind wir uns viel näher. Vor lauter Aufregung kriege ich zittrige Hände. Leihe mir von Papa ein Stativ für das Fernglas. Besser!
9. November 1974
Stehe schon den dritten Tag hinter der Gardine und gucke durchs Fernglas. Trotzdem bemerkt Anja nichts von meiner Liebe. Papa hat Recht. Frauen sind unsensibel!
10. November 1974
Peter meint, ich soll es mal mit Pralinen versuchen. Esse eine Schachtel Pralinen, aber Anja bemerkt meine Liebe immer noch nicht.
11. November 1974
Beschließe, einen Liebesbrief zu schreiben. Nach zwei Stunden hab ich es geschafft!
»Geliebte! Ich kann ohne Dich nicht leben, denn ich liebe Dich!«
Betrachte stolz mein Werk. Perfekt. Besser kann man es nicht schreiben. Fehlt noch die Unterschrift. Soll ich mich direkt offenbaren oder erst mal abwarten, wie Anja auf die Liebesbotschaft reagiert? Entscheide mich für Letzteres und unterschreibe mit »Dein Schnuckelhase M.« Frauen mögen Geheimnisse! Und sie mögen Kosewörter!
Am Abend werfe ich heimlich den Brief in Anjas Briefkasten. Nachts kann ich vor Aufregung kaum schlafen. Wird sie mich erhören?
12. November 1974
Beobachte durchs Fernglas, wie Anjas Vater aufgeregt mit meinem Brief durch die Wohnung rennt und Anjas Mutter anschreit. Was hat der mit meinem Brief zu tun? Ob er nicht will, dass seine Tochter einen Verehrer hat? Muss Anja unbedingt in dieser schweren Stunde beistehen.
»Geliebte! Lass Dir Deine Gefühle nicht verbieten! Wehre Dich und entfliehe Deinem goldenen Käfig! Ich warte auf Dich! Dein Dich liebender Schnuckelhase M.«
13. November 1974
Anjas Vater hat meinen Brief schon wieder abgefangen und redet wütend auf Anjas Mutter ein. Sie schüttelt immer den Kopf und weint. Wahrscheinlich ist sie verzweifelt und will – wie ich – nur das Beste für ihre Tochter. Beschließe, Anjas Mutter zu helfen, und setze einen weiteren Brief auf, den ich diesmal direkt an sie adressiere.
»Nicht aufgeben! Wir sollten auf unsere Gefühle hören!Gemeinsam werden wir das durchstehen und dem alten Herrn zeigen, zu was große Liebe imstande ist! M.« Das wird Anjas Mutter freuen, denn sie weiß jetzt, dass sie im Kampf um das Glück ihrer Tochter nicht alleine dasteht.
14. November 1974
Anjas Mutter verlässt weinend mit einem Koffer das Haus und steigt in ein Taxi.
Abends erzählt Mama mit besorgter Miene, dass Anjas Mutter fürs Wochenende zu ihren Eltern gefahren ist, um ein wenig Abstand zu bekommen. In ihrer Ehe stünde es gerade nicht zum Besten. Man munkelt, sie hätte einen Liebhaber. Kann ich verstehen, bei diesem Mann!
15. November 1974
Anja sieht traurig aus. Ob sie an mich denkt?
16. November 1974
Anjas Mutter ist zurück. Habe das Gefühl, mit meinen Briefen nicht weiterzukommen. Muss direkter vorgehen. Rufe nachts bei Anja an. Ihr Vater hebt ab. Bin erschrocken und keuche vor Aufregung in den Hörer, bevor ich wieder auflegen kann. Gesagt hab ich natürlich nix. Zwei Stunden später versuch ich es erneut. Wieder ist der Vater dran. So geht das die ganze Nacht.
17. November 1974
Anjas Mutter steigt wieder ins Taxi. Ich muss Anja aus diesen zerrütteten Verhältnissen holen!
20. November 1974
Heute will ich Anja direkt ansprechen, wenn sie vom Einkaufen kommt. Trinke eine Flasche auf Ex, um mir Mut zu machen. Kriege Durchfall – vertrage wohl kein Odol.
21. November 1974
Anja zufällig auf der Straße getroffen. Wollte noch schnell die Seite wechseln, um ihr nicht in die Arme zu rennen, doch Anja
Weitere Kostenlose Bücher