Steife Prise
spürte, wie Volker erschauerte. »Nein! Ich würde lieber bei Euch bleiben, wenn es Euch nichts ausmacht … Bitte?«
»Aber du siehst doch nichts in der Dunkelheit!«
»Stimmt. Aber ich habe etwas Schnur in der Tasche. Mein Großvater hat gesagt, ein guter Polizist hat immer Schnur bei sich.« Seine Stimme zitterte.
»Ja, Schnur ist nie falsch«, erwiderte Mumm und zog sie dem Jungen vorsichtig aus der Tasche. »Man staunt immer wieder, wie hilflos ein Tatverdächtiger sein kann, wenn er die Daumen zusammengebunden hat. Bist du sicher, dass du nicht lieber oben an der frischen Luft wärst?«
»Entschuldigung, Herr Kommandeur, aber wenn es Euch nichts ausmacht, finde ich, dass der sicherste Platz immer noch direkt hinter Euch ist.«
»Kannst du wirklich nichts sehen?«
»Überhaupt nichts. Ich komme mir vor wie blind.«
Mumms Einschätzung nach drehte der junge Mann allmählich durch. Vielleicht war es wirklich besser, ihn an sich festzubinden, als mitzuhören, wie er sich bei dem Versuch wegzurennen irgendwo den Schädel einrannte.
»Du bist nicht blind, mein Junge. Wahrscheinlich liegt es an den vielen Nachtdiensten, die ich geschoben habe, dass … Jedenfalls sieht es ganz so aus, als könnte ich im Dunkeln doch besser sehen, als ich gedacht hätte.«
Volker erschrak wieder bei Mumms Berührung, aber gemeinsam gelang es ihnen, Hauptwachtmeister Aufstrich mit ungefähr sechs Fuß borstiger Schnur, die nach Schwein roch, an Mumm festzubinden.
Hinter der kaputten Tür fanden sie zwar keine Goblins vor, aber immerhin brannte dort ein unstetes Feuer unter einem Drehspieß mit einem glücklicherweise nicht näher erkennbaren Stück Fleisch. Es sah ganz so aus, als hätte ein Goblin seine Mahlzeit in allerhöchster Eile verlassen. In der Glut stand sogar eine Tasse, besser gesagt, eine rostige Büchse mit einer immer noch vor sich hinbrodelnden Flüssigkeit. Mumm roch vorsichtig daran und staunte nicht schlecht, als er feststellte, dass es nach Zitronenmelisse roch. Irgendwie überforderte die Vorstellung, wie ein Goblin Schickimicki-Tee mit abgespreiztem kleinen Finger trank, zeitweise seine Nichtübereinstimmungsfunktionen. Andererseits musste Zitronenmelisse ja irgendwo wachsen, oder? Und Goblins bekamen vermutlich irgendwann auch mal Durst, oder? Also musste man sich über das hier wohl keine Sorgen machen. Falls er jetzt aber gleich noch einen Teller mit einem Sortiment köstlicher Kekse fand, würde er sich eindeutig hinsetzen und ein wenig ausruhen müssen.
Er ging weiter. Das Licht wurde nicht dunkler, die Goblins tauchten nirgendwo auf. Der Höhlenkomplex führte eindeutig leicht, aber stetig bergab, und immer noch waren überall Hinweise auf Goblins zu sehen, bloß keine Goblins selbst, was theoretisch eigentlich ein gutes Zeichen war, wenn man bedachte, dass man einen Goblin normalerweise erst dann bemerkte, wenn er auf dem eigenen Kopf landete und sich unverzüglich daranmachte, diesen in eine Bowlingkugel zu verwandeln. Dann ganz plötzlich ein Farbklecks in dieser tristen unterirdischen Landschaft aus Grau- und Brauntönen: Es sah aus wie ein Blumenstrauß oder eher das, was einmal ein Blumenstrauß gewesen war, ehe jemand ihn hatte fallen lassen. Mumm war kein großer Blumenkenner, und wenn er in ehelich ratsamen Intervallen welche für Sybil kaufte, beschränkte er sich im Allgemeinen auf einen Strauß Rosen oder auf das allem Anschein nach akzeptable Gegenstück, eine einzige Orchidee. Die Existenz anderer Blumen, die ihre gemeinsame Wohnung verschönerten, war ihm natürlich bewusst, aber mit Namen hatte er es noch nie so gehabt.
Was hier auf dem Boden lag, waren weder Rosen noch Orchideen. Diese Blumen waren von Hecken und Wiesen gepflückt worden, und es waren sogar welche von den räudigen Pflanzen dabei, die in der kargen Landschaft über ihnen hier und dort ein entbehrungsreiches Dasein fristeten. Jemand hatte sie hierher getragen. Jemand hatte sie hier fallen lassen. Aus der offenen Hand, sodass sie sich jetzt wie ein Kometenschweif über den Weg zogen. Und dann war mehr als nur eine Person darüber hinweggetrampelt, aber wahrscheinlich nicht, weil sie besagten Blumenstraußträger verfolgten, sondern allem Anschein nach deshalb, weil sie auch dorthin wollten, wohin er oder sie gerannt war, und das sogar noch schneller als er oder sie.
Es sah ganz nach einer Stampede aus. Leute, die voller Angst und Entsetzen davongerannt waren. Nur – wovor waren sie davongerannt?
»Du, Kommandeur
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