Steile Welt (German Edition)
jeder immer wieder erzählt, muss das Tal in Mai und Juni blond gewesen sein, als sei die Sonne auf die Erde gefallen. Vom Flussufer bis zu den Monti steht der reife Roggen auf sämtlichen Terrassen, die Halme bis zu einem Meter achtzig hoch. So steht es geschrieben, also muss man es glauben. Gesät im Herbst, geschnitten Anfang Juli, zusammengebunden und an der Sonne getrocknet, werden die Garben Mitte Juli vor dem Haus so lange traktiert, bis sie ihr Korn verlieren. Futter für die Tiere, zum Mahlen nicht reif genug. Man trachtet nach den Halmen, die man nun von den Knoten und Ähren trennt. Dreimalig ins Wasser gelegt und an der Sonne getrocknet, bleichen diese aus. Danach werden sie nach ihrer Dicke sortiert, indem sie, senkrecht auf eine Art Sieb gestellt und geschüttelt, durch die entsprechenden Löcher in Eimer fallen und so zwölf unterschiedliche Qualitäten gewonnen werden können. Erst in den letzten Jahren der Strohindustrie werden die hellen Halme gefärbt, um das Angebot und die Vielfalt der Produkte zu erweitern und der neusten Mode Genüge zu tun.
Das Flechten beschäftigt alle. Je geschickter die Hände, umso dünner die Halme. Die Kinder und die Alten flechten die dicken, die älteren Frauen und Männer die mitteldicken, die Jungen die feinen, und nur Unverheiratete oder Kränkliche sind berechtigt, die dünnsten zu verarbeiten, da sie den ganzen Tag keinen anderen Verpflichtungen nachgehen und somit von allen die geschicktesten geworden sind. Die Menschen flechten im Stehen und Gehen, in der Kirche und in langen Winternächten sogar im Bett. Um nicht zu sagen schlafend. Das Flechten wird zur zweiten Natur. Verschiedene Arten von Zöpfen, aus drei bis elf Halmen, entstehen, werden als lange Bänder zu Ballen gewickelt. Manche sollen sich beschwert haben, auf diese Weise seien Kinder und Haushalt vernachlässigt, Haus und Hof plötzlich zur Nebensache degradiert worden. Das Auskommen durch ein sicheres Einkommen gewährleistet, rückt das Bauerntum in den Hintergrund.
Um der Eintönigkeit der gleichförmig mechanischen Handarbeit zu entgehen, trifft man sich abends, vor allem im Winter, in der sctùa. In jeder Gemeinde gibt es diverse solcher Lokale, wo im Schein der düsteren Lampen die langen Zöpfe entstehen, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Die Zeit vergeht im Flug, und wie kleine, flinke Vögel spielen die Hände mit den Halmen. In der Mitte die Männer, wie könnte es anders sein, die Frauen am Rand. Alle bringen etwas Holz zum Heizen oder Öl für die Lampen mit. Wenn die Zunge in Bewegung ist und die Unterhaltung angeregt, arbeiten die Hände wie von selbst. Die ersten Stunden gehören der Chronik des Tages. Niemand kann sich der Kommentare der anderen entziehen, der Kritik, der Absolution oder eines Urteils. Nachdem dies abgehandelt, kommt man zu den Geschichten, die allesamt von Hexen, Magie, Geistern und Leichen, eigenartigen Geräuschen und unheilvollen Lichtern handeln. Derer gibt es viele. So vergeht der Abend. Um zehn betet die Älteste den Rosenkranz. Dann ist es Zeit für Mütter, Kinder und die Alten, den Heimweg anzutreten. Die Jungen machen weiter, häufig bis nach Mitternacht. Am Samstag wird ihnen der Besuch in einer fremden Stube zugebilligt, dort, wo einer sitzt, den es genauer in Augenschein zu nehmen, wo eine arbeitet, die es zu umwerben gilt. Briefchen werden ausgetauscht oder kleine Gaben, die zwar rasch in den Taschen versteckt werden, Herz und Verstand jedoch in Tumult versetzen. So wird nicht nur Stroh geflochten, sondern oftmals auch noch andere zarte Bande. Wo sollte man sich sonst kennenlernen.
Mit speziellen Scheren werden später die fertigen Zöpfe versäubert, die herausragenden Enden der Halme abgezwickt. Um die Dicke der Bänder zu regulieren, werden sie durch eine Walze gedreht, sodass sie flach und weich werden.
Das Nähen der Hüte ist den Männern vorbehalten. Erst von Hand, später werden die Zöpfe mit der Maschine verarbeitet. Die sitzende Arbeit im Halbdunkel, der Nichtgebrauch der Muskulatur und die einseitige Ernährung bewirken, dass sich aus einem Volk von Bauern und Berglern ein neuer, typisch onsernonischer Männerschlag entwickelt: bleich, gebeugt, mager und schwächlich.
Es wird, so könnte man meinen, hier im Tal eine Zeit lang Stroh zu Gold verwandelt in all diesen gleichförmigen Tagen und Nächten, während fast dreihundert Jahren. Dass aber Handwerk nicht nur goldenen Boden hat oder dieser vielleicht löchrig wird und zu rinnen
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