Steile Welt (German Edition)
beginnt, merkt man, als der Fortschritt am engen Taleingang haltmacht. Die Berghänge eignen sich zu wenig, um den Roggen im grossen Stil anzubauen, und mit der Industrialisie rung im Ausland kann nicht Schritt gehalten werden. Manche, die ausgezogen sind, um die Ware zu verkaufen, verbleiben im Ausland und stellen dort Arbeitskraft und Handwerkskunst zur Verfügung. So wird die Strohflechterei Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nur noch aus folkloristischen und nostalgischen Gründen weiter betrieben. Ein ganzes Tal verliert seine sichere Einnahmequelle und damit die Existenzgrundlage.
«Es ging nie darum, dass einem dieses Leben hier nicht genügte. Aber es hatte einfach nicht genug für alle. Kann sein, dass die beschränkte Welt hier nicht gross genug war, diese Enge. So suchte man das Weite, und der einzige Ausweg war der aus dem Tal, fort von hier, in die Fremde. Dass viel von dem, was dort gefunden wurde, wieder zurückfloss, sieht man in gewissen Dörfern. Das sind Zeichen der Verbundenheit mit dem Tal hier, das doch gleichwohl immer die Heimat geblieben ist. Nicht für alle, aber doch für manche.
Ich bin ja auch weggegangen. Und doch wusste ich immer, dass ich hierher gehöre und einmal hier leben und tätig sein will. Das habe ich erreicht, und ich bin dankbar dafür.»
Er hat viel zu sagen, mein bescheidener Nachbar, will aber lieber nichts gesagt haben. Er kennt hier alle, und alle kennen ihn. Aber bekannt, das will er nicht sein. Tätig zwar im öffentlichen Amt, so mag er gleichwohl nicht in der Öffentlichkeit stehen. Wenn die Antwort ausbleibt, dann nur, um nicht schlecht zu reden. Somit ist die Frage auch geklärt. Klar und sachlich kommen die Informationen. Sein Wissen ist so gross wie sein Einsatz für das Tal. Seien es die Häuser fremder Leute oder die Angelegenheiten der Ansässigen, er kümmert sich. Hat die Schlüsselgewalt und ist der, der die Kontakte knüpft und Verbindungen herstellt zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen, Hilfesuchenden und Dienstleistenden.
Wer sparsam ist mit seinen Worten, weiss, dass es letztlich die Taten sind, auf die es ankommt. So kommt man ins Gespräch mit einem, der nichts sagen will.
«Als die Strohindustrie zusammenbrach, drohte der Niedergang des Tals. Jede Familie war abhängig vom Verdienst, den diese Arbeit einbrachte. Plötzlich galt sie nichts mehr, und neue Einnahmequellen waren nur schwer zu finden. Natürlich hatte man sich immer Gedanken über die Entwicklung des Tals gemacht, aber dass die Notwendigkeit für ein Umdenken so gross war, wurde man sich zu spät bewusst. Die Probleme waren ja eigentlich bekannt. Die Lage, die Topografie, die Transportwege, alles gestaltete sich hier viel komplizierter als anderswo. Man war aber geblen det von diesem relativen Reichtum, den die Flechterei einem bescherte. Man hatte sich nur noch darauf fokussiert und dabei nicht beachtet, dass einerseits die Konzentration auf eine einzige Sache immer sehr riskant war, und dass andererseits die Modernisierung ausserhalb des Tals viel rascher voranschritt. Man wähnte sich in Sicherheit, die Zukunft schien einem gewiss.
Die Geschichte des Tals, das ist nicht nur eine Reihe von Einzelschicksalen, das ist auch die Geschichte einer Gemeinschaft, die sich immer wieder neu finden musste, um für ihre Anliegen und Rechte einzustehen. Die binda beispielsweise verhalf den Menschen nicht nur zu etwas Geld, sie schaffte auch Abhängigkeiten von den Padroni, denen die Manufakturen gehörten und die somit das Monopol hatten und sowohl Entlöhnung als auch Arbeitsbedingungen festlegten.
Doch nicht nur im Zusammenhang mit dem Niedergang der Strohindustrie machte man sich Gedanken zu Entwicklung und Fortschritt. Die Verkehrswege beispielsweise waren immer ein Thema. So überlegte man sich, eine Verbindung zu Italien herzustellen. Geplant war eine Strasse, die von der Grenze bei den Bagni weiterführte über den Passo della Forcola nach Montecrestese und weiter bis Domodossola. Gescheitert ist das Projekt dann wohl an den Kosten, genauso, wie auch der später ins Auge gefasste Tunnel, der Dissimo und Spruga hätte verbinden sollen, nie in Angriff genommen wurde. Für Italien brachten diese Vorhaben zu wenig Vorteile, als dass man bereit gewesen wäre, dort so viel Geld zu investieren. Darum blieb es bei der Strasse nach Spruga. Dafür versetzte aber ein anderes Konzept, das mit dem Nachbarland zusammenhing, unser Tal in Unruhe: Auf der italienischen Seite wollte man
Weitere Kostenlose Bücher