Steile Welt (German Edition)
den rechten Blickwinkel gerückt.
Wenn Hausführung, dann richtig. Die Besichtigung macht selbst vor der Schlafzimmertür nicht halt. Bei der Gelegenheit kann die noch starke und gesunde Hand mit anlegen. Die schwere Matratze ist zu wenden. Meistens wird sowieso ein Vorwand herangezogen, um das ganze Haus zu zeigen. Der Blick von der obersten Lobia oder eine Handreichung, weil es allein nicht mehr geht. So wird vorgeführt, ohne Besitzerstolz demonstriert zu haben.
Jeder Haushalt führt eine Katze. Der gefüllte Napf belegt es. Ausser, er stünde auch hier bereit für Fritz, den Dorfkater. Herausgeputzt der Wohnbereich, wo die Frau regiert. Gut bestückt und ordentlich der Männerbereich in den Schuppen und Werkstätten. Der Heimwerker wirkt hier in seinem wahrsten Wortsinn. So aufgeräumt, wie gewohnt wird, gibt man sich auch. Gewohnt, Gäste zu bewirten, sind wahlweise Wein, Kuchen, Grappa oder Mineralwasser vorrätig. Wer vorbeischaut, bleibt mindestens zwei Stunden. Alles andere gilt als unhöflich. Der Gegenbesuch jedoch erfolgt nur auf ausdrückliche Einladung mit Terminvereinbarung. Diesmal ist man aber selber wieder an der Reihe. Ein Buch soll abgeholt werden, das wäre schon alles.
Die Haustür öffnet sich von innen, noch bevor der Klingelknopf gefunden wird. Im Eingangsbereich eine Fototapete mit Wasserfall. Die passende Geräuschkulisse hat man ja gleich neben dem Haus. Die schöne, sonore Stimme des Mannes, mit dem man beim Brotkauf oder auf dem Parkplatz immer ein paar Worte wechselt, wird nur gerade bei der Begrüssung laut. Dann übernimmt die Hausherrin das Wort. Er ist nur noch Zuhörer, so wie man selber auch. Der Wasserfall bekommt plötzlich noch eine ganz andere Bedeutung.
«Ich bin ja auch eine von hier. Irgendwie. Und irgendwie auch wieder nicht. Man hat sich ja auch abgewendet von dieser Armut und nach einem besseren Leben gesucht. Und es auch gefunden. Sonst könnte man sich das hier ja gar nicht leisten. Trotzdem war der Sog des Tals so stark, dass man wieder zurückgekommen ist und sich etwas aufgebaut hat. Ohne aber das andere aufzugeben. Die Vorteile hier lassen sich an einer Hand abzählen. Die Schönheit, die Ruhe, die Abgeschiedenheit. Mehr kommt mir schon gar nicht in den Sinn. Früher war es noch die Familie. Hier hat man sich immer getroffen, bei der Zia. Sie war hiergeblieben und der Grund, dass alle mindestens einmal im Jahr herkamen. Das fällt nun auch weg. Die Eltern und Grosseltern, die Tanten und Onkel, sie leben alle nicht mehr. Meine eine Schwester, die kommt noch einmal pro Jahr. Jetzt ist es das Haus, weswegen man herfährt. Wir konnten es übernehmen. Unsere Jungen, die haben kein Interesse daran. Das ist ihnen hier zu langweilig. Die machen andere Ferien. Auf die muss man nicht warten.
Nachteile, davon könnte man eine ganze Liste erstellen. Da fangen wir besser gar nicht damit an. Warum wir also hier sind, früher fast an jedem Wochenende und jetzt seit zwanzig Jahren immer von Mai bis Oktober? Es ist einfach schön hier. Das muss genügen. Es ist meine Heimat. Hier fühle ich mich daheim.
Dieses Buch, das vielleicht interessant ist, ich habe es ja nicht gelesen, hat einer angefangen, dessen Familie auch hier im Dorf ihren Ursprung hat. Auf eine entfernte Weise ist er mit mir verwandt. Wir entstammen ursprünglich demselben Geschlecht. Selber hat er nie hier gelebt. Ist nur hergekommen, um dem Tal ab und zu seine Aufwartung zu machen. Um zu schauen, wie es um seine Besitztümer steht, und zu zeigen, was aus ihm geworden ist. Ahnenforschung hat er betrieben. Er wollte wohl wissen, wie viel blaues Blut in seinen Adern fliesst. So etwas hat mich nie interessiert. Sein Werk konnte er aber nie beenden. Der Tod ist ihm dazwischengekommen. Wenigstens der ist gerecht. Der holt sich alle, ob arm oder reich. Nur bei der Beerdigung, da hat es dann schon wieder aufgehört hier in diesem Dorf. Die Reichen fanden ihre letzte Ruhe im oberen, die Armen im unteren Dorf. Ich weiss nicht, ob das heutzutage immer noch so ist. Ich habe nur gesehen, dass im oberen Dorf ziemlich viel Platz gemacht wurde und man alte Gräber aufgehoben hat. Wahrscheinlich rechnen sie mit einigen Todesfällen in der nächsten Zeit.
Er, dieser entfernte Cousin, gehörte zu denen, deren Väter, Grossväter oder Urgrossväter, was weiss ich, zur rechten Zeit am richtigen Ort waren, nämlich dort, wo es Arbeit gab, dort, wo etwas im Aufbau begriffen war. Sie gründeten ein Bauunternehmen in Frankreich, und
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