Steile Welt (German Edition)
Summen der Fliegen übertönt die Stille. Es riecht einsam. Nach viel Zeit, die allein verbracht wurde. Doch der Moment, ihn zu verlassen, ist noch nicht gekommen. Die Fortsetzung liegt in der Luft und sucht nach Sätzen. Die sind noch nicht zum Schluss gekommen.
«Ich war dann nie verheiratet. Deshalb bin ich es gewohnt, für mich zu sorgen. Noch heute mache ich meinen Haushalt selber, versorge meine vier Ziegen und mache Käse aus der Milch. Ab und zu kommt die Nichte vorbei, geht mir etwas zur Hand mit der Wäsche. Da bin ich schon ganz froh drum.
Ich weiss nicht, ob die Geschichte mit dem Bruder der Grund ist, dass ich mein Leben lang allein geblieben bin. Das war nämlich so: Das junge Mädchen, das ich heimbegleitet hatte an jenem Abend, in das war ich verliebt. Nein, ich muss sagen, ich liebte sie. Schon als Kind weckte sie in mir den Beschützer. Ich war fünfzehn Jahre älter als sie. Und wartete immer die Zeit ab, in der sie alt genug sein würde, um mit einem Mann zusammen zu sein. Sie war immer unbeschwert und fröhlich. Sie konnte das Leben in jedem Moment geniessen, noch dann, wenn die anderen am Klagen waren. Sie tanzte sogar im Regen herum, wenn alle so schnell es ging in ihren Häusern verschwanden. Sie war meine Sonne, meine Freude. In diesem Jahr kam sie in ein Alter, wo sie merkte, wie sie auf die Jungen wirkte. Sie begann mit dem zu spielen. Liess sich umwerben und hatte Spass daran, dass sie vielen gefiel. Dem Bruder, eben diesem, gefiel sie ausnehmend gut. Er tanzte mit ihr an diesem Fest, so oft sie es zuliess, vielleicht gelang es ihm sogar in einem unbemerkten Augenblick, sie in einer dunklen Ecke zu küs sen. Schon vorher war mir aufgefallen, dass die beiden miteinander spielten, sich gegenseitig neckten. Sie kamen mir vor wie junge Hunde, die sich hinterherrannten und nicht genau wussten, was sie miteinander anfangen sollten, ausser sich spielerisch zu zanken. Er war nicht viel älter als sie, siebzehn. Und ich, ich ging auf die dreissig zu. Ich war zu alt für diese Art von Spielen.
An einem Tag, sie kamen wieder einmal beide die Strasse entlanggelaufen, beide sonnenwarm und mit erhitzten Gemütern, trieb sie es zu weit. Ich stand auf der Laube zur Strasse hin, und als sie mich bemerkte, rief sie mir zu, er würde sie heiraten, wenn sie nur bald von ihm ein Kind erwarten würde. Ich packte den Besen, stürzte die Treppe hinunter und rannte ihr hinterher. Lachend lief sie davon. Ihr Fang mich doch, du Spassverderber, machte mich noch rasender. Aber ich liess sie laufen. Später erst wurde mir dann bewusst, dass sie wohl gar nicht gewusst hatte, wie es funktionierte, dass eine Frau schwanger wurde. Es war einfach einer ihrer unüberlegten Spässe gewesen. Von da an liess ich sie nicht mehr aus den Augen. Begleitete sie, wenn sie unterwegs war, und lieferte sie immer verantwortungsvoll beim Vater ab. Da sie ebenfalls unten im Tal arbeitete, musste ich diese Rolle nur am Wochenende übernehmen. Es traf sich gut. Wir waren immer gleichzeitig bei unseren Eltern.
Auch an jenem Abend, als sie das Fest verlassen musste, war das nicht anders. Eigentlich wollte ja mein Bruder diese Aufgabe übernehmen. Ich brauchte zum Glück aber gar nicht einzugreifen. Sie packte meinen Arm und bestimmte, ich wäre der, mit dem sie den Heimweg machen würde. Mit mir könnte ihr nichts geschehen, schliesslich sei ich ihr Schutzpatron, meinte sie. Sie hätte es in hundert Jahren nicht bemerkt, wie sehr ich sie verehrte. Ich hätte mich aber nie getraut, mich ihr anzunähern. Für sie war ich eine andere Generation. Ihr Beschützer eben.
Hätte ich die beiden nur zusammen ziehen lassen. Ja, vielleicht wären sie dann ein Paar geworden, wer weiss. Das wäre aber immer noch besser zu ertragen gewesen als der Tod des kleinen Bruders. Ich stellte mir dann immer vor, wie er in jener Nacht mehr getrunken hatte als gewöhnlich. Weil er vielleicht eifersüchtig auf mich gewesen war. Dass er dann an ihrem Haus vorbei wollte, um vielleicht noch an ihre Scheibe zu klopfen. Und darum diesen anderen Weg genommen hatte. Aber das waren alles Vermutungen, die ich in den darauffolgenden Wochen anstellte, als ich nicht mehr heimkehrte und nur noch arbeitete wie ein Tier. Das Aufpassen auf meine heimliche Liebe war mir auf jeden Fall vergangen. Wir sahen uns noch ab und zu. Aber irgendetwas war anders geworden zwischen uns. Ich hätte sie noch immer gern gehabt, aber ich hatte mich in dieser Zeit zu sehr in mich selber
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