Steile Welt (German Edition)
Mädchen in der Küche steckten einem dann schnell etwas zu, wenn niemand hinsah, und manchmal, das war selten, gab es sogar ein Trinkgeld. Man lieferte ja nicht direkt bei den Herrschaften aus, sondern meistens bei den Diensten. Wenn man aber glaubte, dass es in den reichsten Häusern am meisten zu verdienen gab, hatte man falsch gedacht. Dort wurde man oft am schlechtesten behandelt. Bei den Reichen lernt man sparen, das hatte man dann sofort gemerkt. Nur mussten wir vom Tal das nicht lernen. Sparsamkeit wurde uns bereits in die Wiege gelegt, nur hatten wir nichts, was wir auf die Seite hätten legen können. Darum ging man fort, um zu arbeiten. Damit man auch einmal Geld hatte. Dieses wurde aber weder selber wieder ausgegeben noch angespart. Am Wochenende brachte man es heim, der Mutter. Die wusste, was am nötigsten war, und sie gab es aus für die Familie, für den Hof. Natürlich, etwas behielt man auch für sich selber. Man wollte ja auch ab und zu eins trinken gehen oder ein Mädchen einladen, wenn Tanz war. Den Heimweg am Wochenende, zurück ins Tal, machte man zu Fuss. Für die Reise wollte man kein Geld ausgeben. Dafür hatte man seine Beine.
Die meisten von uns arbeiteten auf den Baustellen. Die Dörfer und die Städte unten waren am Wachsen, so gab es da immer etwas zu tun. Diese Arbeit hatte den Vorteil, dass man von Grund auf lernte, wie ein Haus gebaut wurde. Das Mauern und Verputzen, das Streichen und die Zimmerarbeiten. So konnte man dieses Wissen und manchmal sogar ein wenig Material mit heim nehmen, um am eigenen Haus zu bauen, wenn es nötig war. Darum konnten dann viele, die nach Jahren wieder zurückkamen, ihre Häuser selber wieder aufbauen. Häuser, die sie halb verfallen ganz günstig erwerben konnten. Niemand hatte eine Baufirma oder fremde Handwerker nötig. Man half sich gegenseitig.
Die Mädchen, wenn sie zu Hause entbehrlich waren, wurden auch nach unten geschickt, um Geld zu verdienen. Das hatte den weiteren Vorteil, dass im eigenen Haus eine weniger am Tisch sass. Die Töchter gingen meistens in eine Familie, die genug Geld hatte, um sich Dienstmädchen leisten zu können. Oder sie arbeiteten in Küchen. Die Überlegung war, unten würden sie vielleicht früher oder später eine gute Partie machen, eher als hier im Tal. Diese Rechnung ging sogar oft auf. Aber ich hörte auch einige von ihnen klagen, solche, deren Herrschaften ihnen an die Röcke wollten.»
Sich auf dem Tischblatt abstützend, steht der alte Mann auf. Die Tassen sind leer. Er schlurft zum Herd. Die Arme scheinen zu lang geraten zu sein. Die Hände, gross wie Schaufeln, reichen schier bis an die Knie. Das liegt aber an der gebeugten Haltung, mit der er den Rest seines Lebens begeht. Auch die Wolljacke über dem karierten Hemd ist zu lang geworden. Die weite Hose halten die Hosenträger vom Rutschen ab. Das Haar aber ist noch voll. Einer Drahtbürste gleich stehen die Silberborsten dicht an dicht. Vereinzelte Bartstoppeln wurden bei der Rasur übersehen oder in der faltigen Haut nicht erwischt. Der fast zahnlose Mund erzählt erstaunlich klar und genau in den Einzelheiten. Unverständlich manchmal nur, weil der Dialekt sich immer wieder einmischt. Die Nachfrage muss laut sein. Das Gehör lässt nach. Bald lauscht man ebenso dem Unaussprechlichen, dem Ungesagten zwischen den Sätzen.
«Nun bin ich fünfundachtzig und wieder da, wo ich einmal angefangen hatte.
Zwei von uns Kindern sind bereits in den ersten Lebensjahren gestorben. Manchmal denkt man daran, das könnte man auch selber gewesen sein. Ein angefangenes Leben, das keine Fortsetzung fand. Einer meiner Brüder, ein Dutzend Jahre jünger als ich, starb später, als junger Mann. Daran erinnere ich mich noch gut. Es war ein Sonntagmorgen im Juli. Es war ein schöner Tag. Alle jungen Leute des oberen Tals waren am Samstagabend vorher an diesem Fest im unteren Dorf gewesen. Man hatte getanzt, getrunken und gesungen. So, wie das halt war, damals an diesen Festen. Man sah alle die wieder, die unter der Woche irgendwo arbeiteten und am Wochenende ins Tal nach Hause kamen. Wenn es etwas zu feiern gab, waren alle immer gekommen, und man tauschte die Neuigkeiten aus. Ich begleitete ein Mädchen auf seinem Heimweg. Sie war noch jung und musste früher zu Hause sein als wir älteren. Bei den jungen Männern wurde das auch nicht so streng gehandhabt wie bei den Frauen. Da passten die Väter schon auf, dass die Töchter in ihren Betten schliefen. So übergab ich mein
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