Steile Welt (German Edition)
zurückgezogen.
Ein, zwei Jahre später, sie war kaum siebzehn, hielt dann einer von unten, den sie bei der Arbeit kennengelernt hatte, bei ihrem Vater um ihre Hand an. Er war ihm genehm. Und er war zehn Jahre älter als sie. Vielleicht hätte ich ja doch eine Chance bei ihr gehabt.
Mein Herz hatte ich dann niemandem mehr geschenkt. Es war mir zu schwer geworden in diesem Sommer. Diese Bürde wollte ich mit niemandem teilen. So bin ich alt geworden, ohne zu erfahren, was es heisst, wirklich zu lieben und geliebt zu werden. Ich richtete meine Kraft auf die anderen Seiten des Lebens. Das war auch nicht schlecht, auf eine Art. Ich würde es wieder so machen, wenn ich noch einmal anfangen müsste. Nur diese eine Weiche an jenem Sommerabend, die würde ich anders stellen. Nur kann man ja nie im Voraus wissen, welcher der vielen möglichen Wege zum Glück führt. Wir sind ja die einzigen Lebewesen auf Gottes Erde, die das Glück bewusst wahrzunehmen vermögen. Statt danach zu streben, suchen wir nach einem Sinn. Und weil wir den nicht finden, stehen wir dem Glück im Weg. Mit der Sinnfrage, ja, damit hatte ich mich lange Jahre auseinandergesetzt. Und war dabei keinen Schritt weitergekommen. So hatte ich mich dann darauf konzentriert, wieder glücklich zu werden. Oder wenigstens zufrieden. Zeitweise ist mir dies sogar gelungen, hier an diesem schönen Ort.»
Man erwacht, so wie man eingeschlafen. Nur dass das Licht durchs Dachfenster jetzt ein hellblaues ist. Mit einem Hauch von Weizenblond. Der neue Tag verrührt die Erinnerungen mit den Vermutungen und formt aus Bruchstücken ein Ganzes. Die Schwermut, die manchmal tagelang aus dem Talboden aufsteigt, muss irgendwo ihren Ursprung haben. Der liegt in den Geschichten, die nie vollständig erzählt werden. Weil sie unter der Haut liegen und an der Oberfläche zu sehr wehtun.
Unter dem Steintisch liegt ein halber Siebenschläfer in seiner letzten Ruhe. Die hintere Hälfte. Das buschige Silberschwänzchen und die Hinterpfötchen unversehrt. Rot das Fleisch, das aus dem abgekauten Bauch dringt.
Hat also auch der Ketzer des Nachts ein Geschenk vorbeigebracht.
müdria
Das neue Postauto gibt zu reden. Das haben die alten auch. Die quietschenden Stossdämpfer beispielsweise, die das eigene Wort übertönen. Da ist nicht einmal ein Selbstgespräch möglich. Es tropft von den Fenstern, bei Regen wegen eben dem, in der Sommerhitze von der Klimaanlage. Die Luken klemmen sowie die Klappe für das Gepäck. Lieber nimmt man den Rucksack auf den Nebensitz, als sich den Finger einzuklemmen. Hilfeleistung ist nicht zu erwarten, vor allem nicht beim Aussteigen. Sonst aber ist alles in Ordnung.
Der Stuhl des Fahrers wippt auf und ab, während die Stösse der Strasse einem selber in den Rücken fahren.
Das neue Postauto gibt zu staunen. Leuchtbuchstaben vorne und seitlich. Die würden anzeigen, wohin die Reise führt. Gut gemeint, aber nicht nötig. Es gibt nur eine Richtung. Diese Geräumigkeit plötzlich, wo doch die Enge des Mittelgangs immer mit der begrenzten Breite des Fahrzeugs begründet wurde. Der Geruch nach frischem Kunststoff und die beiden Bildschirme an der Decke. Soviel Technik hätte man nicht erwartet. Doch zu sehen ist nur, dass das System blockiert sei und man die folgende Telefonnummer kontaktieren müsse. Daher wohl auch das andauernde und ziemlich unangenehme Piepsgeräusch. Es kann leiser gestellt werden, aber nur bis zum nächsten Halt. Dann beginnt es von neuem in maximaler Lautstärke.
Das neue Postauto gibt zu denken. Wenn man sich nun in zwei Abteilen gegenübersitzen kann, so bedeutet das für vier, rückwärts zu fahren. Welcher Magen macht das mit? Ist es üblich, dass mit Automatikgetriebe schneller gefahren wird? Wenn nun der Chauffeur nicht mehr schalten muss, ist es dann unbedingt nötig, dass er jetzt mit der rechten Hand dauernd mit dem Touchscreen beschäftigt ist? Wenn das System blockiert ist, um welches handelt es sich?
Postautofahrten sind normalerweise entspannter als solche mit dem eigenen Auto. Heute ist das etwas anders. In diesem geräumigen Gefährt fühlt man sich nicht so gut aufgehoben. Aber auch daran wird man sich gewöhnen. Man hat sich ja auch an die neue Billettausgabe gewöhnt. Die gibt es bereits seit zwei Wochen. Ausser, dass dies nun etwas länger dauert, kostet es auch neunzig Rappen mehr. Pro Weg. Einsachtzig also retour. Warum, weiss keiner. Aber jedes Vergnügen hat eben seinen Preis. Denn der Unterhaltungswert dieser
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