Steilufer
und auch alle anderen Mitarbeiter aus Küche und Restaurant sollten mit entscheiden. Ja, so würde sie es machen.
Sie blieb noch einen Moment an dem großen Holztisch sitzen und dachte darüber nach, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Der Sommer hatte angefangen, die Geschäfte liefen glänzend, genau, wie Yann es prophezeit hatte. Und er hatte noch etwas gesagt, etwas, das sich jetzt zu erfüllen schien: Zu uns kommt das große Glück.
Georg Angermüller saß im Garten seiner Schwiegereltern und schwitzte. Gerne hätte er diesen freien Tag anders verbracht, doch die Geburtstagsfeier von Johanna war eine Pflichtveranstaltung, bei der auch entschuldigtes Fehlen nicht geduldet wurde. Zu der anhaltenden Hitze war jetzt noch eine unangenehme Schwüle gekommen, über dem Blau des Himmels lag ein gräulicher Schleier und nur selten regte sich ein Lüftchen. Unter dem alten Kirschbaum, gleich neben den Johannisbeerbüschen, waren zwei Kaffeetafeln hergerichtet, die eine mit Johannas feinstem Porzellan und silbernen Kuchengabeln auf einer Blaudrucktischdecke für die Erwachsenen und eine weitere mit dem Alltagsgeschirr auf einem Wachstuch für die Kinder.
Selbst hier im Schatten der Bäume war es so unerträglich heiß, dass Georg meinte, er könne den Saft in den schwarzen Johannisbeeren schon kochen hören. Heini, sein Schwiegervater, tat ihm leid. Ein ums andere Mal wischte er sich mit seinem großen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und bemühte sich, Haltung zu bewahren, aber es war deutlich zu sehen, dass die Hitze dem 80-Jährigen alten Herrn zu schaffen machte. Astrid, Sigrid und Gudrun gingen ihrer Mutter zur Hand und brachten Platten voll saftigem Butterkuchen und fruchtigem Kirschkuchen zu den Tischen und Johanna ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihre traditionelle Lübecker Nusstorte persönlich auf der Kaffeetafel zu platzieren.
Die Männer der Familie hingen kraftlos auf ihren Stühlen und sogar die Kinder hatten nicht die Energie, durch den Garten zu toben. Vielleicht lag es an der Hitze, vielleicht auch daran, dass man sich erst einige Tage zuvor am Strand getroffen hatte – Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, verliefen im Sande. Endlich war auch der Kaffee fertig und für die Kinder stand ein Krug Apfelsaft bereit, der jeden Herbst aus der Dittmerschen Apfelernte gekeltert wurde. Während Johanna den heißen Kaffee aus einer Thermoskanne in die Tassen füllte, haderte sie unentwegt mit dem Wetter, das sich ja nun genau zu ihrem Geburtstag verschlechtert habe.
»Es ist jedes Jahr dasselbe: Erst schönstes Sommerwetter und an meinem Geburtstag wird es schlecht! Wenn das man nur trocken bleibt! Das würde noch fehlen, dass es heute regnet!«
Keiner sagte etwas dazu, da jede Äußerung nur noch für mehr Aufregung gesorgt hätte und Johanna nur zu gerne irgendjemanden für die Wetterlage verantwortlich gemacht hätte.
Ihre Bäckereien jedenfalls waren wie immer aufs Trefflichste gelungen und trotz des appetithemmenden Wetters spürte Georg den Drang, auch wirklich alle Sorten kosten zu wollen. War seine Schwiegermutter sonst immer sehr kritisch, was seine immer runder werdende Statur betraf, so hartnäckig war sie, wenn sie ihm noch ein Stück Selbstgebackenes offerieren wollte.
»Es schmeckt dir doch, Georg?«
»Wie immer – ganz hervorragend!«
»Dann zier dich nicht so, Georg! Wir sind hier doch ganz unter uns Pastorentöchtern.«
Und schon hatte er noch ein mächtiges Stück der köstlichen Lübecker Nusstorte auf seinem Teller. Zwischen dem knusprigen Mürbeteigboden und luftigem Biskuit fand sich eine Schicht herbsüßer Marmelade aus roten Johannisbeeren und auf dem Biskuitteig türmte sich mit gemahlenen Haselnüssen durchzogene Schlagsahne. Gekrönt wurde die Komposition von einer dünnen Marzipandecke, die die ganze Torte umhüllte und die Johanna kunstvoll mit Sahneröschen und Haselnüssen verziert hatte.
»Tja, Georg, bi uns im Norden da sünd die Torten-s-tücke so groot as Plätteisen – da musst du dich dran gewöhnen!«, dröhnte Schwager Peter in die Runde und alle lachten, obwohl dieser Ausspruch bei fast jeder Familienfeier fiel. Georg lächelte lahm und arbeitete sich zügig durch das Stück Marzipantorte, das sich in der Hitze in seine Bestandteile aufzulösen drohte. Entgegen anderer Erfahrungen stand er heute augenscheinlich hoch in der Gunst seiner Schwiegermutter. Schon bei der Begrüßung hatte sie sich ungewohnt wohlwollend über sein fast
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