Steilufer
was wollen die auch alle hier?«
»Wir wissen nicht, was der Junge hier wollte. Er konnte es uns nicht mehr sagen und bisher haben wir auch keinen gefunden, der ihn kannte.«
Angermüller wusste genau, worauf sein Schwager abzielte, aber warum auch immer, er wollte seine krude Weltsicht aus Ignoranz und Vorurteilen einfach noch einmal von ihm selbst hören.
»Hör mal, das weiß man doch, warum die hierher kommen! Die denken, hier wäre das Paradies. Die kriegen hier ’ne Wohnung umsonst, die kriegen Taschengeld und brauchen nicht arbeiten.«
»Weißt du denn, wie das Paradies von den Leuten aussieht, lieber Jochen?«
Astrid konnte die platten Allgemeinplätze ihres Schwagers nicht unkommentiert lassen.
»Mehrbettzimmer in einer Asylunterkunft, Einkaufen mit sachgebundenen Gutscheinen, ungewohntes, teils richtig schlechtes Essen, Sprachkurse höchst selten, da kein Geld dafür vorhanden ist und keine Aufgabe, den ganzen Tag nichts zu tun. Und hin und wieder wirst du von Einheimischen angepöbelt, wenn du Glück hast! Wenn du Pech hast, quälen sie dich ein bisschen und manchmal überlebst du es nicht. Das unterscheidet sich doch nur geringfügig von eurem Urlaubsparadies in der Provence, oder?«
»So habe ich das doch nicht gemeint!«, versuchte Jochen sich zu rechtfertigen. »Aber für die einfachen Leute sieht das doch so aus, als ob es den Ausländern hier ohne Arbeit mindestens so gut, wenn nicht noch besser als ihnen selbst geht.«
»Und jemand wie du, der es eigentlich besser wissen könnte, macht es sich mit genau den gleichen Vorurteilen bequem! Wenn Leute wie du schon mit so einer Gedankenlosigkeit diese Scheinargumente übernehmen, welchen Vorwurf kann man den schlichten Geistern machen, wenn sie den Neonazis glauben? Hör doch auf, Jochen!«, winkte Astrid ab, schob Georg vor sich her und ließ ihren Schwager einfach stehen.
Immer noch rauschte der Wind in den Bäumen, es hatte sich ein wenig abgekühlt, doch das war nach der drückenden Schwüle ganz angenehm. Johannas Befürchtung, es könne regnen, war nicht eingetroffen. Man hatte Windlichter auf den Tischen verteilt und im dämmrigen Zwielicht saßen die Geburtstagsgäste ziemlich matt und satt auf ihren Stühlen herum. Nur Johanna war schon wieder emsig und deckte Suppenteller und Löffel auf, denn sie fand, dass es Zeit für ihren Nachtisch wurde, um den sie ein großes Geheimnis gemacht hatte. Natürlich gaben alle vor, wahnsinnig gespannt zu sein.
Das Überraschungsdessert entpuppte sich als warme Pflaumensuppe, in der unter einer Haube aus steif geschlagener Sahne eine Kugel Vanilleeis schwamm, gekrönt von gerösteten und karamellisierten Weißbrotwürfeln und Mandelsplittern. Die sanft nach Zimt und Vanille schmeckende, süß-säuerliche Suppe war wirklich köstlich, doch Georg schaffte es trotzdem nicht, mehr als ein paar Löffel davon zu kosten.
Als alle ihre Teller beiseitegeschoben und den wunderbaren Nachtisch gelobt hatten, zeigte auch Johanna deutliche Ermüdungserscheinungen. Trotzdem fragte sie höflich, ob noch etwas zu trinken gewünscht würde. Niemand meldete sich und so deckte man den Tisch ab, allgemeine Aufbruchstimmung machte sich breit und nach vielen Versicherungen, wie schön es doch wieder einmal mit der ganzen Familie gewesen war, verabschiedete man sich voneinander.
Wenig später rollte der betagte Volvo in Richtung St. Jürgen. Astrid saß am Steuer und die Zwillinge waren auf der Rückbank eingeschlafen, kaum hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt. Georg Angermüller lehnte zufrieden auf dem Beifahrersitz. Der Sonntag lag vor ihm wie ein Geschenk. Er würde ihn zu nutzen wissen.
14
Noch kein Tropfen Regen war gefallen. Wolkenberge von graublau bis violett schoben sich langsam und drohend über den Horizont. Bäume und Knicks, die Felder und Wiesen säumten, schwankten unter den Attacken eines heftigen, böigen Windes. Der düstere Himmel hatte der sanften Hügellandschaft ihren ganzen Liebreiz genommen und man wartete förmlich darauf, dass der Sturm endlich losbrechen würde. Seit Stunden schon wartete man vergeblich.
Angermüller war nicht böse darüber, dass die drückende Hitze einer frischen Kühle gewichen war, wenn sich auch die Luft sehr feucht anfühlte und man trotzdem leicht ins Schwitzen geriet. Die Touristen, die eine Woche lang Strandleben pur genießen durften, waren verschreckt. Sie hatten das Mittelmeerklima bereits als festen Bestandteil der Lübecker Bucht verinnerlicht. Jetzt
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