Steilufer
– einfach so zerstört! Jetzt hätte alles wieder von vorne angefangen. Ich wollte Anna nicht noch einmal verlieren.«
Einen Moment war es still, dann fragte Angermüller:
»Eines würde ich gerne wissen: Lionel sieht seinem Vater ja auch ziemlich ähnlich, was ist mit seinem Gesicht? Macht Ihnen das keine Angst?«
Tanguy zeigte ein überlegenes Lächeln.
»Pas du tout. Lionel ist ein Kind, er hat damit überhaupt nichts zu tun. Er ist vor allem Annas Sohn und er hat ihre Augen.«
Jansen und Angermüller verständigten sich mit einem Blick, dann stand Jansen auf und schaltete das Aufnahmegerät ab. Die beiden Polizisten schwiegen einen Moment. Der Mann hatte seine Taten zu einer Art Selbstverteidigung umgedeutet und bei ihnen immer wieder um Absolution geworben, die sie ihm natürlich nicht gewähren konnten. Seine Handlungsweise entsprang eindeutig niederen Beweggründen. Wenn es so etwas wie krankhafte Eifersucht gab, dann war Yann Tanguy diesem unseligen Wahn völlig erlegen und insofern vielleicht einfach nicht zurechnungsfähig – aber das würden andere zu klären haben.
Sie hatten alles gehört. Ihr Fall war geklärt. Sie hatten mehr erfahren, als sie erwartet hatten.
Angermüller und Jansen begannen mit der amtsüblichen Routine. Zwei Beamte kamen, um Tanguy in eine der Zellen des Polizeigewahrsams zu bringen. Er schaute etwas irritiert zu den beiden Kommissaren, ließ sich dann aber widerstandslos abführen. Jansen setzte sich mit dem Staatsanwalt in Verbindung, damit der Haftbefehl vorbereitet und der Festgenommene am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt werden konnte. Angermüller telefonierte mit Eckmann, dem stellvertretenden Behördenchef, um ihm die Erfolgsmeldung mitzuteilen. Der gratulierte ihm und Jansen hocherfreut. Sie setzten für Montagmorgen eine Besprechung an und kamen überein, am Mittag dann eine Pressekonferenz zu geben.
»So!«
Mit einem lauten Knall wurde eine Schranktür geschlossen.
»Was hält mein geschätzter Kollege denn von Feierabend?«
Jansen schaute um die Ecke seiner Bürotür. Auch Angermüller räumte die letzten Papiere von seinem Schreibtisch.
»Viel.«
Natürlich gab es noch eine Menge zu tun. Die Kriminaltechnik musste die Spuren verifizieren, die auf den Aussagen des Täters basierten, Zeugen mussten vernommen, Berichte geschrieben werden. Auch die französischen Behörden mussten informiert werden. Das Rätsel um den Toten vom Steilufer war zwar gelöst, die Arbeit an dem Fall damit aber noch lange nicht beendet. Doch all das hatte Zeit bis morgen. Sie hatten einen wirklich vollgepackten Tag hinter sich und Angermüller spürte jetzt, da er an Feierabend dachte, dass er ziemlich erschöpft war.
»Und was machst du mit dem angebrochenen Sonntag?«, fragte er seinen Kollegen, als sie mit dem Fahrstuhl aus dem 7. Stock nach unten fuhren.
»Erstmal bin ich bei meiner Mutter zum Essen heute. Die wird meckern, weil ich zu spät komme. Bei ihr wird um 6 gegessen und da hat man pünktlich zu sein!«
Mittlerweile war es fast 8. Bei diesem Thema fiel Angermüller ein, dass er sich gar nicht bei Astrid gemeldet hatte. Er war ja eigentlich davon ausgegangen, spätestens am Nachmittag wieder zurück zu sein. Zwar hatten sie nichts Konkretes verabredet, aber nach den Diskussionen der letzten Wochen hätte er ihr vielleicht besser Bescheid sagen sollen. Auch bei seiner Mutter im Krankenhaus hatte er nicht angerufen, was die ihm sicherlich wieder übel nahm, auch wenn sie sich am Telefon meist nichts zu sagen hatten. Aber heute hatte er wenigstens eine einleuchtende Entschuldigung.
Er ließ sich von Jansen in ihrem Dienstwagen bis zur Ecke Overbeck/Fritz-Reuter-Straße mitnehmen und ging den restlichen Weg zu Fuß. Er brauchte jetzt ein bisschen Bewegung. Nach der Anspannung der letzten Stunden fühlte sich sein ganzer Rücken verkrampft an und die Beine waren steif.
Es war ruhig auf den Straßen, nur wenige Autos fuhren und auch Fußgänger waren kaum unterwegs und wenn, dann waren es meist Hundebesitzer, die ihre Tiere vor dem sonntäglichen Abendprogramm im Fernsehen noch einmal Gassi führten. Georg Angermüller dachte an Anna Floric. Sie würden im Rahmen der Aufarbeitung des Mordfalles auch mit ihr noch einmal reden müssen und vor allem hatten sie die unangenehme Aufgabe, sie über das ganze Ausmaß der Taten von Yann Tanguy zu informieren. Schlimm genug, sie mit Details über den Mord an Rachid Messaoudi behelligen zu müssen. Ihm graute davor. Wie
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