Stein und Flöte
leise. ›Bist du’s nicht zufrieden, daß du die Herrschaft über die Blutaxtleute behältst?‹
Kluibenschedl war weiß im Gesicht vor Zorn. ›Weißt du nicht‹, schrie er, ›daß es einer Beleidigung gleichkommt, wenn man seinen Gegner gewinnen läßt? Und daß noch größere Schande den trifft, der dies tut?‹
›Ich weiß es‹, sagte mein Vater, nahm seinen Augenstein vom Tisch und steckte ihn ein, als sei die Sache damit erledigt. ›Ich habe mit dem ersten Spiel das Kind gewonnen, mit dem zweiten mein Leben und meine Freiheit damit, daß ich das dritte gespielt habe. Kann ich jetzt gehen?‹
›Gehen?‹ wiederholte Kluibenschedl tonlos. Dann schrie er: ›Mit Schimpf und Schande werde ich dich aus dem Tal jagen!‹ und seinen Leuten befahl er: ›Setzt ihn auf den Schandesel!‹
Rikka sagte, diese Nacht liege in ihrer Erinnerung wie ein Alptraum. Die Männer hätten einen alten, räudigen Esel aus dem Stall gezerrt, Arni ergriffen und mit dem Gesicht nach hinten auf das bockende Tier gebunden. Dann hätten sie den Esel durch ein paar Stockschläge zum Laufen gebracht und ihn mit Geschrei und Fackelschwingen auf den Weg zum Joch gescheucht. Frauen und Kinder seien kreischend hinterhergelaufen und hätten den Mann auf dem Esel mit Steinen und Dreck beworfen. Dabei hätten sie geschrien: ›Schande über dich, Arni Falschspieler!‹ Und so hätten sie ihn aus dem Dorf getrieben. Sie selbst sei hinterhergerannt, ohne den steinigen Boden unter ihren bloßen Füßen zu spüren, und habe halb blind vor Tränen auf das Gesicht ihres Vaters gestarrt, das vor ihr im Schein der Fackeln auf und ab schwankte. Es sei verschmiert gewesen vor Erde, und aus einer Wunde unter dem rechten Auge sei Blut über seine Wange geronnen; aber er habe gelächelt, als sei er zufrieden mit diesem Ausgang.
Bis hinauf auf das Joch hätten die Blutaxtleute sie noch verfolgt, erst dann seien sie zurückgeblieben. Nach einiger Zeit sei der Esel dann in Schritt gefallen, und sie habe ihren Vater losbinden können. Er habe dann sie auf das Tier gesetzt und gesagt: ›Stört’s dich, daß es ein Schandesel ist?‹ Ihre Antwort habe er nicht abgewartet und sie auf diese Weise nach Hause gebracht. Das ist die Geschichte«, schloß der Sanfte Flöter, »die mir Rikka Jahre später berichtet hat und die ich für wert halte, daß ihr sie Arnis Leuten weitererzählt.«
Günli und Orri blickten betreten zu Boden. Es war deutlich zu sehen, daß sie diese Geschichte peinlich fanden, und auch Lauscher konnte Arnis Handlungsweise nicht begreifen. »Warum in aller Welt hat er diesen Kluibenschedl gewinnen lassen?« fragte er. »Kannst du mir das erklären, Großvater?«
»Das könnte ich schon«, sagte der Sanfte Flöter, »aber ich fürchte, du würdest es dennoch nicht verstehen und noch weniger diese beiden braven Handelsmänner, die es gar nicht fassen können, daß Arni beim Spielen gemogelt haben soll.«
Günli nickte zu seinen Worten und sagte: »Auf Geschichten, die Frauen erzählen, soll man nicht zu viel Vertrauen setzen. Vielleicht ist alles ganz anders verlaufen.«
»Willst du an den Worten von Arnis Tochter zweifeln?« fragte der Sanfte Flöter streng. Da schüttelte Günli schweigend den Kopf und zuckte mit den Schultern. Nur Lauscher gab sich noch nicht zufrieden. »Das bißchen Mogelei ist es gar nicht, was ich nicht begreife«, sagt er. »Ich frage mich vielmehr: Warum hat er die Möglichkeit nicht genutzt, diese Blutaxtleute zu friedlichen Menschen zu machen? Es lag ja in seiner Hand. Daß er gemogelt haben soll, stört mich nicht. Aber warum hat er das getan?«
»Das hat ihn auch Rikka gefragt«, sagte der Sanfte Flöter.
»Und was hat er geantwortet?« fragte Lauscher.
»Nur einen Satz«, sagte der Sanfte Flöter, »und ich weiß nicht, ob du viel damit anfangen kannst. Er soll gesagt haben: Darf man einen Wolf zwingen, Gras zu fressen, wenn er keinen Appetit darauf hat?«
Lauscher schüttelte ratlos den Kopf. »Daß ihr alten Männer immer in Geheimnissen sprechen müßt!« sagte er.
»Tun wir das?« fragte der Sanfte Flöter. »Ich glaube, das kommt dir nur so vor, weil du deinen Blick zu sehr auf das Äußere der Dinge richtest. Du kannst über die Wirklichkeit nichts aussagen, wenn du nur die sichtbare Oberfläche der Dinge beschreibst, die jedermann vor Augen hat. Die Wirklichkeit steckt hinter den Dingen, und man kann nur in Bildern von ihr sprechen. Du kannst sie nicht packen, wie du eine Katze beim Schwanz
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