Stein und Flöte
ich dir etwas Gutes tue, wenn ich dir meine Flöte überlasse. Ich fürchte, du hast noch keine rechte Vorstellung von der Macht, die dir damit verliehen wird. Aber ich werde es wohl darauf ankommen lassen müssen, daß der Unsinn, den du damit anstellst, irgendwann einen Sinn bekommt.«
Lauscher gefielen weder die Reden, die sein Großvater führte, noch der Platz, der mit solch unangenehmen Erinnerungen verknüpft war. »Wolltest du nicht einen Besuch machen?« fragte er in der Hoffnung, diese Szene damit zu beenden.
»Einen Besuch?« fragte der Großvater. Dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn und rief: »Ach ja, natürlich! Gut, daß du mich daran erinnerst. Du mußt einem alten Menschen nachsehen, wenn er leicht ins Schwätzen kommt und darüber vergißt, was er eigentlich vorhatte.« Er legte Lauscher die Hand auf die Schulter und fügte hinzu: »Komm, dort müssen wir hinauf.« Dabei zeigte er zu ein paar einzeln stehenden Bäumen, die als Vorhut der Wälder von Barleboog über die letzte Hügelkuppe ragten.
Nebeneinander stiegen sie den Hang hinauf. Das kurze, dürre Gras war nach dem Morgenregen schon wieder trocken. An den sparrigen Stengeln der Flockenblumen waren neben den silbrigen Kelchen der ausgefallenen Fruchtstände hie und da noch vereinzelte purpurne Blüten, sonst gab nur noch der Herbstenzian mit seinen blaßvioletten Blütentrauben dem grauen Rasen etwas Farbe. Oben auf dem Hügel standen drei uralte Ebereschen, über und über behängt mit feuerroten Beerendolden. Lauscher betrachtete die schönen Bäume, an denen sich schon das Laub zu färben begann. Dann sah er den Grabhügel mitten zwischen den Stämmen. Er blickte seinen Großvater fragend an, und der sagte: »Ja, wir sind da.«
Sie gingen die letzten paar Schritte zu den Bäumen und blieben vor dem Grab stehen. Als einziger Schmuck lagen auf der Erdaufschüttung die gelb und rot gefärbten Fiederblätter der Ebereschen. »Großmutter?« fragte Lauscher, und der Sanfte Flöter nickte, aber er schien nicht traurig zu sein, sondern heiter und nickte dem Grabhügel zu, als stünde dort leibhaftig seine gewaltige Frau, um ihn zu begrüßen. »Siehst du«, sagte er, »nun ist Lauscher doch wiedergekommen, und wir brauchen nicht mehr auf ihn zu warten.« Dann setzte er sich ins Gras und forderte Lauscher mit einer Handbewegung auf, sich neben ihn zu setzen.
Eine Zeitlang schauten sie schweigend hinunter in das Hügelland. Man blickte von hier aus bis zum Fluß, der zwischen Erlengehölz und Pappeln in breiten Windungen durch das Grasland zog bis weit hinaus in die Ebene, die am Horizont im Dunst verschwamm. Als sie eine Weile so nebeneinander gesessen hatten, sagte der Großvater: »Diesmal bist du der Flöter, der in die Welt hinausreiten wird.«
»So wie Barlo?« fragte Lauscher.
»Ja«, sagte der Großvater, »und doch auch wieder nicht so wie er. Er hatte eine Aufgabe, und du mußt deine erst finden.«
»Dafür ist seine Flöte nur aus Holz und meine …« Lauscher stockte, denn ihm kam zum Bewußtsein, daß Großvaters Flöte ihm noch gar nicht gehörte. Doch der Sanfte Flöter lachte und ergänzte: »und deine ist aus Silber.«
»Wo hast du sie eigentlich her?« fragte Lauscher.
»Gut, daß du mich das fragst«, sagte der Sanfte Flöter. »Sonst hätte ich womöglich noch vergessen, es dir zu erzählen. Denn das gehört zu den Dingen, die dem Erben weitergegeben werden müssen.
Als Kind habe ich Schafe gehütet. Auch mein Vater war ein Schafhirte, so wie wiederum sein Vater einer gewesen ist, und vermutlich hatten auch dessen Vater und Großvater mit Schafen zu tun. Du weißt ja inzwischen, wie das ist: Als Schafhirte muß man die Einsamkeit ertragen können, und wenn man sich von Kind an daran gewöhnt hat, will man’s gar nicht mehr anders haben. So kommt es wohl, daß die Söhne von Schafhirten immer wieder Schafhirten werden. Doch davon wollte ich ja gar nicht erzählen.
Ich lebte damals weiter im Norden, wo mein Vater seine Herden auf die Grashänge am Fuß des Gebirges trieb und oft auch weit hinauf in die Täler. In dieser Zeit hatte ich gerade ausgelernt, und mein Vater hatte mir zum ersten Mal eine eigene Herde anvertraut, während er selbst seine Schafe in einem Seitental weiden ließ. Mir hatte er die Hänge am oberen Ende des Haupttales zugewiesen, die bis an die Grenzen der Geröllfelder unter den Gletschern hinaufreichen. Dort saß ich eines Tages auf einem Felsblock oberhalb meiner Herde und
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