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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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drei geheimnisvollen Krüglein zu werfen, die in der Tiefe des Gewölbes hinter Großvaters scharfen Heiltränken verborgen waren. Er rückte den Enziankrug beiseite und hob die Kerze. Da standen sie beieinander, die verstaubten Krüglein mit den seltsamen Aufschriften. Die beiden ersten kannte er schon, doch nun wollte er auch noch wissen, was das dritte enthielt. Er nahm es vorsichtig vom Regal und hielt es ins Licht seiner Kerze. Zunächst konnte er nur einige bräunlich verblaßte Buchstaben erkennen, die in acht Zeilen angeordnet waren, doch als er die Kerze noch näher hielt, traten die Schriftzüge deutlicher hervor, schlossen sich zu Wörtern und Sätzen, und Lauscher las:
    Stehst nach tausend Runden
    vor dir selbst erschreckt,
    wird dir dieses munden,
    wenn’s auch bitter schmeckt.
    Wirst in Stein gebunden,
    bleibst im Stein versteckt;
    wirst du nicht gefunden,
    wirst du nicht geweckt.
    Sonderbare Säfte bewahrte sein Großvater hier auf, dachte Lauscher. Von diesem Zeug würde er bestimmt nicht trinken, und es würde ihm wohl auch nicht ›munden‹, was immer das heißen mochte; denn bitter war dieses Gebräu auf jeden Fall. Offenbar brachte man es nur hinunter, wenn man zuvor vor sich selbst erschrocken war, und dazu hatte er wahrhaftig keinen Grund. Eigentlich war er sogar recht zufrieden mit sich und auch damit, wie die Dinge sich entwickelten. Wer diese Aufschriften wohl verfaßt hatte? Er nahm sich vor, seinen Großvater bei Gelegenheit danach zu fragen. Fürs erste stellte er das Krüglein wieder an seinen Platz und verbarg es hinter dem größeren Krug. Dann nahm er den Topf mit dem Pflaumenmus und stieg hinauf in die Küche.
    Nach dem Essen sagte der Sanfte Flöter zu seinem Enkel: »Komm! Wir wollen ein Stück laufen. Das bißchen Geschirr kannst du auch später abwaschen.« Er schien vergnügt zu sein, und auf seinen Wangen zeigte sich sogar eine Spur der roten Apfelbäckchen, die ihm in den vergangenen Jahren abhanden gekommen waren. Auch schien er durchaus nicht mehr so hinfällig zu sein wie vor einer Woche, griff sich einen zierlichen Spazierstock, der neben der Tür lehnte, und tänzelte in seinem gewohnten hurtigen Schritt hinaus ins Freie. Als Lauscher fragte, wohin es gehen solle, sagte der Sanfte Flöter nur: »Einen Besuch machen«, aber er verriet nicht, bei wem. Um so mehr wunderte sich Lauscher, als sein Großvater nicht den Weg zum Eselwirtshaus wählte, sondern die entgegengesetzte Richtung einschlug. Wen in aller Welt wollte er dort besuchen?
    Als sie eine Zeitlang zwischen den grünen Hügeln entlanggegangen waren, blieb der Sanfte Flöter stehen, blickte sich prüfend um und lachte kurz auf. »Hier war es«, sagte er dann.
    »Was war hier?« fragte Lauscher.
    »Das ist die Stelle, an der wir uns zum ersten Mal getroffen haben«, sagte der Sanfte Flöter. »Weißt du das nicht mehr?«
    Jetzt erkannte auch Lauscher den Platz wieder, und die Erinnerung an die Lage, in der er sich damals befunden hatte, war durchaus nicht angenehm. Er sah sich wieder übermüdet und abgehetzt zwischen den grasigen Hängen stehen und auf den rachsüchtigen Stummen starren, der mit erhobenem Knüppel heranpreschte.
    »Hast wohl ganz schön Angst gehabt damals?« sagte der Großvater und lachte vergnügt, als sei das Ganze eine höchst spaßige Angelegenheit.
    »So lustig fand ich das gar nicht«, sagte Lauscher mit einem Anflug von Ärger in der Stimme.
    »Aber du hattest es redlich verdient«, sagte der Sanfte Flöter heiter. »Findest du nicht?«
    Lauscher nickte widerwillig. Warum wärmte sein Großvater diese alten Geschichten auf? »Ich bin auch mit Barlo drei Jahre lang durch das Land geritten und habe ihm gedient, um das alles wieder in Ordnung zu bringen«, sagte er.
    »Und du meinst, jetzt sei diese Ordnung wiederhergestellt?« fragte der Sanfte Flöter belustigt.
    »Ist sie das nicht?« fragte Lauscher.
    Der Sanfte Flöter lachte, wie man über die törichten Reden eines Kindes lacht. »Was verstehst du unter Ordnung?« sagte er dann. »Unsereiner versteht sich wohl vorwiegend nur darauf, diese Welt in Unordnung zu bringen. Wenn du dem Verlauf der Dinge eine neue Richtung gegeben hast, dann kannst du das nicht mehr rückgängig machen, und die Folgen deiner Tat werden bis in alle Ewigkeit sichtbar bleiben. Manchmal fügt sich aus all diesen Irrwegen allerdings eine neue Ordnung, aber das ist nicht unser Verdienst.« Er blickte Lauscher nachdenklich an und fügte hinzu. »Ich weiß nicht, ob

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