Stein und Flöte
packst. Wenn dir eine solche Rede geheimnisvoll vorkommt, hast du noch nicht viel von der Wirklichkeit begriffen.«
»Dann war wohl auch die Geschichte, die Rikka erlebt haben soll, nur ein solches Bild?« fragte Günli. Er war offenbar bereit, jeden Strohhalm zu ergreifen, an dem er sich aus der Verwirrung retten konnte, in die ihn dieser Bericht über Arnis merkwürdiges Verhalten gestürzt hatte.
»Damit magst du recht haben«, sagte der Sanfte Flöter. Als er jedoch die Erleichterung auf Günlis Gesicht sah, setzte er hinzu: »Das heißt allerdings nicht, daß diese Dinge nicht wirklich geschehen wären. Ich bin sicher, daß sich alles so zugetragen hat, und dennoch ist das Ganze auch ein Bild für jene Wirklichkeit, die Arni zum Lächeln brachte, während man ihn so demütigte.«
»Es wird schwer sein, geeignete Ohren für diese Geschichte zu finden«, sagte Günli. »Aber ich werde über sie nachdenken müssen, denn vergessen kann ich sie nicht.«
Bald darauf verabschiedeten sich die beiden Händler unter mannigfachen Dankesbezeugungen und zahlreichen Bücklingen. Auch vor Lauscher verbeugten sie sich tief, und Günli sagte: »Ich spreche sicher im Namen von Arnis Stellvertreter und allen Leuten Arnis, du erwählter Träger des Steins, wenn ich der Hoffnung Ausdruck verleihe, daß du unseren gewöhnlichen Hütten die Ehre deines schon jetzt ersehnten Besuchs schenken mögest.«
Lauscher stand mit seinem Großvater vor der Tür und blickte den Davonreitenden nach. Es hatte aufgehört zu regnen, und zwischen den abziehenden Wolken waren schon wieder einzelne Streifen blauen Himmels zu sehen. Als die beiden Händler in den Weg nach Barleboog einbogen, zogen sie noch einmal ihre Pelzkappen, um sie mit einer Geste der Ergebenheit zu schwenken.
Am Nachmittag erhielt Lauscher seine nächste Lektion im Flötenspielen. Diesmal lernte er, einzelne Töne laut oder leise zu blasen. »Wenn dein Spiel Kraft haben soll«, sagte der Sanfte Flöter, »dann mußt du das wirklich von ganzer Seele wollen, sonst machst du nur Lärm, der zu nichts nütze ist als die Vögel zu verscheuchen. Noch schwerer ist es jedoch, so leise zu spielen, daß man dich eben noch hören kann, und dabei doch jedem einzelnen Ton den Ausdruck zu verleihen, der die Zuhörer zwingt, den Atem anzuhalten.«
Lauscher übte beides, bis sein Großvater zufrieden nickte, um gleich darauf zu Bett zu gehen.
Unter dergleichen Exerzitien vergingen auch die nächsten Tage. Einmal war das Trillern an der Reihe, dann wieder das rasche Stoßen eines Tones mit flatternder Zunge, das an den Gesang der Nachtigall erinnert. Lauschers Spiel in der tiefen Lage klang dem Lehrmeister noch nicht satt und voll genug, während ihm die hohen Töne noch immer ein wenig zu schrill erschienen. So hatte Lauscher genug zu tun, wenn er seine vorgeschriebenen Übungen absolvierte, und kam auch weiterhin nicht dazu, seine neuerworbenen Künste in frei schweifenden Melodien anzuwenden. Wenn er es dennoch versuchte, brach der Sanfte Flöter seinen Unterricht sofort ab und verwahrte die Flöte im Regal.
Am Vormittag des siebenten Tages mußte Lauscher noch einmal alles wiederholen, was ihm der Großvater beigebracht hatte. Er spielte lang ausgehaltene Töne und rasch dahinspringende Tonfolgen, ließ das Instrument stark tönen oder sanft säuseln und durchschritt dabei den gesamten Tonraum vom tiefsten Grundton bis zu den höchsten Höhen. »Das genügt«, sagte der Sanfte Flöter schließlich. »Nun hast du alles erfahren, was notwendig ist, um diese Flöte zu spielen. Heute nachmittag müssen wir einen Spaziergang unternehmen. Jetzt will ich mich ein bißchen hinlegen.«
Lauscher ging in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten, und merkte dabei, daß die Vorräte fast aufgebraucht waren. Morgen würde er zum Eselwirt gehen müssen, um die Speisekammer aufzufüllen. Für heute reichte es gerade noch. Er fand ein paar Eier, etwas Mehl und den Krug Milch, der jeden Morgen vor der Tür stand. Etwas Butter war auch noch da, und so stellte er eine Pfanne auf den Herd und buk Pfannkuchen. Dann öffnete er die Falltür und stieg hinunter in den Keller, um einen Topf Pflaumenmus für die Füllung zu holen. Wieder tauchten die Krüge und Töpfe im unsteten Licht der Kerze aus dem Dunkel. Das Pflaumenmus hatte Lauscher bald gefunden, denn dergleichen nahrhafte Dinge standen gleich vorn, damit man sie bei der Hand hatte. Aber er konnte nicht widerstehen, noch einmal einen Blick auf die
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