Stein und Flöte
anderen nicht einmal nach dem Namen fragen! Da müssen wir uns eben anderweitig behelfen.«
Er hob seine Flöte zum Mund und blies einen weithin tönenden Dreiklang, der sogleich aus dem nahen Gebüsch beantwortet wurde. Dann flatterte dort eine Amsel auf, strich niedrig über die Wiese herüber und setzte sich auf die Schulter des Sanften Flöters. Lauscher glaubte seine alte Freundin wiederzuerkennen, ja, er war sicher, daß sie es war.
»Nun verrate du mir, wie dieser Mann hier heißt«, sagte der Sanfte Flöter.
Die Amsel zwitscherte ihm eine rasche Tonfolge ins Ohr, legte dann den Kopf schief und blickte mit ihren kleinen schwarzen Augen herüber zu Lauscher, als wolle sie sagen: Na, bist du endlich auch da?
»Auf dich ist wenigstens Verlaß«, sagte der Sanfte Flöter. »Barlo heißt er also. Das war einmal ein berühmter Name in Barleboog.«
Der Stumme nickte und versuchte ein Lächeln, das allerdings mehr wie ein verzerrtes Grinsen ausfiel, was bei seiner Verletzung nicht zu verwundern war.
»Tut wohl immer noch weh?« fragte der Alte. »Dann wollen wir erst einmal nach Hause gehen und etwas dagegen unternehmen.« Er drehte sich um und schritt auf einem ausgetretenen Pfad über die Wiesen davon, ohne sich darum zu kümmern, ob ihm die beiden folgten. Lauscher verspürte noch immer wenig Lust, mit dem Stummen allein zu bleiben, und lief seinem Großvater nach. Barlo nahm das Pferd am Halfter und trottete langsam hinterher.
Der Weg führte zwischen den grünen Hügeln am Bach entlang, und nach drei oder vier Biegungen tauchte eine Gruppe von drei uralten Linden auf, und im Schutz ihres dichten Blätterdachs lehnte am Hang ein gemütliches kleines Haus. Das riedgedeckte Dach reichte fast bis zum Boden, und unter den grüngestrichenen Fensterläden hingen Blumenkästen mit roten Nelken und gelben Begonien.
Der Sanfte Flöter griff mit der Rechten die Amsel auf seiner Schulter und warf sie in die Luft. »Melde uns erst einmal an«, sagte er, worauf der Vogel pfeilschnell auf das Haus zuflog und in einem offenen Fenster neben der Eingangstür verschwand. »Deine Großmutter hat nämlich wenig Sinn für Überraschungen«, sagte er zu Lauscher, der ihn inzwischen eingeholt hatte.
Das war nicht übertrieben, denn sie waren noch nicht in den Schatten der Linden getreten, als die Haustür aufgestoßen wurde und eine dicke alte Frau heraustrat, die den Ankömmlingen einigermaßen grimmig entgegenblickte. Ihr rundlicher Kopf war von einem weißen Haarknoten beträchtlichen Umfangs gekrönt, durch den eine gewaltige Nadel gestoßen war wie ein Spieß durch einen Bratapfel. Sie stemmte die kräftigen Arme in die Seiten und rief in einem dröhnenden Altweiberbaß: »Wen hast du da wieder aufgegabelt? Schlepp mir nicht diese abgerissenen Landstreicher ins Haus! Und auch noch ein Pferd! O Gott! O Gott!, womit habe ich das verdient?« Und das Ganze klang so, wie wenn eine Mutter ihren Sprößling daran hindern will, eine Horde ungewaschener Straßenjungen in ihre frischgeputzte Wohnung einzuladen.
Lauscher war verblüfft. Wie konnte man in dieser Tonart mit solch einem bedeutenden Mann sprechen, von dem man selbst bei den Beutereitern im fernen Osten gehört hatte? Er schaute seinen Großvater an, und der stand doch tatsächlich da wie ein kleiner Junge, der eben dabei ist, die Suppe auszulöffeln, die er sich eingebrockt hat. Doch dann zwinkerte er Lauscher zu und sagte halblaut: »Nimm’s nicht tragisch. Sie redet ein bißchen laut, aber nur, um ihr gutes Herz zu übertönen.«
Er legte Lauscher die Hand auf die Schulter und schob ihn vor seine Großmutter, die mit deutlicher Mißbilligung seine zerfetzten Kleider betrachtete. »Ich soll wohl auch noch das Zeug dieses ungewaschenen Burschen flicken?« fragte sie aufgebracht.
»Wenn du deinem leiblichen Enkel diesen Dienst erweisen willst«, sagte der Sanfte Flöter mit seiner sanftesten Stimme. Doch damit entfesselte er nur einen neuen Wortschwall.
»Meinem Enkel?« rief seine gewaltige Gattin. »Dem Sohn des Großen Brüllers? Ha, das ist ein Mann! Groß, dick und haarig, wie sich’s gehört! Warum sagst du das nicht gleich?« Sie zog Lauscher an ihren umfangreichen Busen und schimpfte zugleich weiter auf ihren sanften Gatten. »Siehst du«, zeterte sie, »so ist er: Sagt kein Wort, läßt mich reden und reden und tut, als könne er nicht bis drei zählen. Lieber Himmel, was habe ich da für einen Tagedieb geheiratet! Treibt sich in der Weltgeschichte herum,
Weitere Kostenlose Bücher