Stein und Flöte
einer silbernen Flöte spielte. Mit wiegenden Schritten kam er langsam näher, es sah fast so aus, als tanze er zu seiner Musik, den Kopf leicht zur Seite geneigt und ganz versunken in sein Spiel. Er spielte und spielte, und sein Flötenlied machte Lauscher traurig und glücklich zugleich. Traurig, weil ihm all das bewußt wurde, was er falsch gemacht hatte, und weil er zugleich erkannte, wie weit er von dem Bild des Menschen, der er hätte sein können, entfernt war; und glücklich, weil es etwas so Schönes gab wie diese Flötenmelodie, in der sich die einander widerstreitenden Disharmonien des Lebens spielerisch zu einer wohlgefügten Ordnung reihten.
Er sah, wie die Finger des Sanften Flöters mit winzigen Bewegungen Grifflöcher deckten und freigaben, leicht, mühelos und doch nicht willkürlich oder ohne Regeln. Dieses Spiel folgte Gesetzen, die nicht einschränkten und Gewalt übten, sondern von Zwängen befreiten und alle Widersprüche lösten.
Wenn er sich seinen Großvater als einen eindrucksvollen, ehrfurchtgebietenden Mann vorgestellt haben sollte, so wurde er gründlich enttäuscht: Vor ihm stand ein ziemlich kleiner alter Mann mit einem von tausend Lachfältchen zerknitterten Gesicht, rosigen Apfelbäckchen und einem silbergrauen Lockenkranz um die hohe Stirn. Auf seiner Nase zitterte ein goldener Zwicker, der ein bißchen schief hing und ins Rutschen kam, wenn der Flöter einen Triller blies. Schließlich setzte der Sanfte Flöter sein Instrument ab und sagte: »Da bist du ja endlich, Lauscher. Du hast lange gebraucht, um durch die Wälder von Barleboog zu reiten.«
»Ich bin aufgehalten worden«, sagte Lauscher.
»Ich weiß«, sagte der Sanfte Flöter. »Vielleicht sollte man besser sagen: Du hast dich aufhalten lassen. Denn zum Aufhalten gehören immer zwei, und Gewalt hat die Herrin von Barleboog doch wohl nicht angewendet.«
»Du hast recht, Großvater«, sagte Lauscher. »Ich habe mich aufhalten lassen, bin ihr auf den Leim gegangen, und dabei ist nichts Gutes herausgekommen.«
»Das kann man wohl sagen, mein Junge«, sagte der Sanfte Flöter und wiegte betrübt den Kopf, daß der Zwicker wieder ins Wanken geriet. »Was zum Beispiel dabei herausgekommen ist, kann man an diesem bedauernswerten Menschen sehen, der hier noch immer mit drohend erhobenem Knüppel auf seinem Pferd sitzt wie ein Denkmal für die Dummheit anderer Leute.«
Lauscher hatte den Schreier völlig vergessen gehabt und drehte sich jetzt zu ihm um. Wie versteinert saß jener noch immer im Sattel, den Knüppel nach oben gereckt wie ein Schwert, und starrte verständnislos auf den unscheinbaren alten Mann, der ihn daran gehindert hatte, seine Rache zu vollenden. Der Sanfte Flöter ging zu ihm hinüber, tätschelte den Hals des Pferdes und sagte: »Was sitzt du noch immer wie ein Ölgötze auf deinem hohen Roß? Schmeiß endlich diesen Prügel weg und steig ab, damit ich mit dir reden kann wie mit einem Menschen!«
Jetzt erst senkte der Reiter den Arm und ließ den Knüppel fallen. Dann stieg er ab und blickte auf den Sanften Flöter herunter, der fast zwei Köpfe kleiner war als er. Dem schien das aber nichts weiter auszumachen. Er nahm den Stummen bei der Hand und führte ihn hinüber zu Lauscher. »Wie heißt du überhaupt?« fragte er im Gehen den anderen. Dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn und rief: »Entschuldige, du kannst ja nicht reden. Hatte ich ganz vergessen. Aber das kriegen wir wieder in Ordnung. Auf meine Weise, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.«
Der Stumme schüttelte den Kopf.
»Verstehst du nicht?« redete der Alte munter weiter, als führe er mit einem Freund ein Gespräch über irgendeine nebensächliche Angelegenheit. »Macht nichts. Wirst es schon noch begreifen. Und schau meinen Enkel nicht so finster an. Ich weiß, er hat dir übel mitgespielt. Aber er ist jung und noch ziemlich dumm. Du hast ja gesehen, was dieses machtgierige Weib mit ihm angestellt hat.«
Während der Sanfte Flöter mit nicht minder sanfter Stimme auf ihn einredete, besänftigte sich auch die Miene des Stummen. Nun fragte der Alte, ob Lauscher wisse, wie der Mann heiße. Doch der schüttelte nur den Kopf.
»Das hab ich mir fast gedacht«, sagte der Sanfte Flöter, diesmal mit einer etwas weniger sanften Stimme. »Sich von Leuten bedienen lassen, gar über sie zu Gericht sitzen – wenn man das überhaupt so nennen darf, und man darf nicht, das kann ich dir versichern! – und bei alledem den
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