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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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keiner kann uns sagen, wer von uns als erster aus dem Mutterleib gekrochen ist. Darauf hat wohl niemand geachtet. Nun streiten wir uns darum, wer von uns als Nachfolger des Khans gelten soll. Nur einer kann herrschen, und der andere muß dienen. Ich bin der bessere Reiter, und da wir auf dem Rücken unserer Pferde leben, verlange ich das Recht der Nachfolge.«
    »Ich bin der bessere Bogenschütze«, fiel ihm Arni ins Wort, »und da wir von der Jagd auf Beute leben, verlange ich das Recht der Nachfolge.«
    »Ich bin der bessere Tänzer«, sagte Hunli, und »ich bin der bessere Schachspieler«, entgegnete Arni.
    »Und im Streiten seid ihr beide gleich gut«, sagte ich. »So werdet ihr euch nie einigen. Ich selbst bin weder alt noch weise genug, um euch zu raten«, denn damals war auch ich erst einige zwanzig Jahre alt.
    »Wozu reden wir dann?« sagte Arni, und beide griffen schon wieder nach ihren Messern.
    »Wartet«, sagte ich. »Ich habe erfahren, daß in den Bergen am Rande der Steppe eine weise Frau mit Namen Urla wohnen soll, die dergleichen Fragen zu entscheiden weiß. Ich meine, wir sollten zu ihr reiten und ihr die Sache vortragen.«
    »Auch wir haben von der weisen Urla gehört«, sagte Hunli. »Aber nur dem Khan selbst ist es erlaubt, sie zu befragen.«
    »Dann wollen wir zu eurem Vater reiten und ihn bitten, die Sache in die Hand zu nehmen«, schlug ich vor. Da nickten die beiden, standen auf und fingen ihre Pferde ein. Ich sattelte mein Maultier, und wir ritten zusammen in das Lager der Beutereiter.
    Wenn ich ehrlich sein soll, so muß ich sagen, daß mein Vorschlag nicht ganz uneigennützig war. Ich hatte von der weisen Urla nicht nur gehört, sondern war außerordentlich begierig, ihre Bekanntschaft zu machen. Weisheit ist jeden Umweg wert. Unter den Leuten in der Steppe erzählte man sich fabelhafte Dinge von ihr, und manche hielten sie gar für eine mächtige Zauberin.
    Der Khan nahm mich freundlich auf, und nachdem wir gemeinsam ein zartes Zicklein verspeist hatten, wobei er mir mit eigener Hand die leckersten Bissen in den Mund schob, brachten die Brüder ihre Sache vor. Der Khan hörte sie aufmerksam an, und als sie zu Ende gesprochen hatten, sagte er: »Diesen Streit kann und will ich nicht selbst schlichten. Denn nur einer kann herrschen, und jener, den ich zum Dienen bestimme, wird mich hassen. Daran will ich keine Schuld haben. Ich werde also mit euch zu Urla reiten, und der Fremde soll uns begleiten, weil er euch diesen guten Rat gegeben hat. Weise wird sein, wer auf Weise hört.«
    Am nächsten Tag schon ritten wir zu viert durch die Steppe auf die fernen Berge zu, die sich blau am Horizont abzeichneten. Jeden Tag rückten sie ein Stück näher, und nach einer Woche erreichten wir die Wälder am Fuß des Gebirges. Am Waldrand ließen wir unsere Reittiere zurück und gingen zu Fuß auf einem schmalen, steinigen Pfad lange Zeit bergauf durch niedriges Gehölz, bis der Weg wieder ins Freie auf eine Bergwiese führte. Am Hang weidete eine kleine Schafherde, und weiter oben stand zwischen zwei riesigen Felsen eine aus roh zugehauenen Stämmen errichtete Blockhütte.
    »Wartet hier«, sagte der Khan, »ich will Urla erst fragen, ob sie euch empfangen will.« Dann stieg er allein hinauf zur Hütte und verschwand in der Tür. Nach kurzer Zeit trat er wieder heraus und gab uns ein Zeichen, daß wir nachkommen sollten.
    Urla stand in der Mitte des niedrigen Raumes, als wir eintraten, und blickte uns entgegen. Sie war eine mittelgroße Frau von schmaler Gestalt mit weißem Haar. Trotz ihres Alters war ihr Gesicht noch immer glatt und schön wie das eines jungen Mädchens. Ihre Augen werde ich nie vergessen, obwohl ich ihre Farbe nicht beschreiben könnte. Wenn sie einen ansahen, wußte man, daß ihnen wenig verborgen bleiben konnte.
    »Seid mir willkommen, Hunli und Arni«, sagte sie, »und auch du, Fremder, von dem man sagt, daß er sich aufs Flötenspielen versteht. Ihr werdet hungrig sein von dem weiten Weg. Seid also meine Gäste.«
    Sie ließ uns an einem runden Tisch Platz nehmen, bot uns Milch, Brot und Schafkäse an und nötigte uns so lange, bis wir satt waren. Dann forderte sie den Khan auf, den Grund unseres Besuches zu nennen. Er legte ihr dar, wie es sich mit den Zwillingen verhielt, und erwähnte auch, daß sie schon drauf und dran gewesen seien, einander umzubringen. »Entscheide du zwischen ihnen«, schloß er seine Rede. »Ich kann es nicht, ohne einen von ihnen zu kränken; denn ich

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