Stein und Flöte
Reh auf. Sein Pferd hatte es besser; denn Gras gab es am Bach entlang in Hülle und Fülle.
Am dritten Abend war er so müde und zerschlagen, daß er sich neben den Bach ins Moos fallen ließ und sofort einschlief, ohne etwas zu essen oder sich um sein Pferd zu kümmern, das er den ganzen Tag lang am Halfter hinter sich hergezerrt hatte. Er erwachte von einem heiseren Schrei, der ihn hochfahren ließ. Im fahlen Licht der Dämmerung reckten ringsum uralte Bäume ihre knorrigen Äste in den Morgennebel. Während er mühsam aufstand, ließ ihn ein zweiter Schrei zusammenzucken. Und dann hörte er weit oben am Hang das Poltern von Hufen. Da merkte er erst, daß sein Pferd nicht mehr da war. Der unheimliche Schreier mußte es ihm gestohlen haben, und er war es wohl auch gewesen, der ihm seine Vorräte genommen hatte.
Lauscher fühlte sich zu schwach, um den Dieb zu verfolgen. Er starrte hinauf zu den gespenstigen Baumriesen und spürte, wie die Angst in ihm hochkroch. Nun besaß er nichts mehr als seine auf der langen Wanderung von Dornen zerfetzten Kleider und den Augenstein, den er auf der Brust trug. Er zog den Beutel hervor und ließ den Stein in die hohle Hand fallen. Warm schimmerten die Farben unter der glatten Oberfläche. Lauscher blickte in das Auge aus Stein und spürte, wie die Angst verging. Es war ihm, als ob ihm das Auge zuredete, weiterzugehen und den Mut nicht zu verlieren. Er legte den Stein zurück in den Beutel, trank einen Schluck Wasser aus dem Bach und machte sich wieder auf den Weg.
Er war noch nicht weit gekommen, als sich oben im Wald wieder Hufschlag näherte. Sehen konnte er nichts, das dichte Laub verbarg den Reiter, aber dafür konnte er hören, wie der Dieb sein Pferd den Hang heruntertrieb, bis er es dicht über Lauscher im Gebüsch zum Stehen brachte. Und dann stieß er wieder seinen heiseren Schrei aus, einen bösen, rachsüchtigen Schrei, der Lauscher mit Entsetzen erfüllte. Er begann weiterzulaufen, sprang im Bachbett von Felsen zu Felsen, glitt aus, stürzte ins Wasser, rappelte sich wieder hoch und lief und lief, bis er meinte, dem Schreier entkommen zu sein. Doch kaum hatte er einen ruhigen Schritt angeschlagen, brach der Reiter wieder über ihm durch die Büsche und hetzte ihn mit seinem Schrei.
Vier Tage lang dauerte diese Jagd. Lauscher wagte in der Nacht kaum ein Auge zuzutun. Beim leisesten Geräusch fuhr er hoch und schleppte sich wieder ein Stück weiter. An Beerensammeln oder Pilzesuchen war nicht zu denken. Hungrig und müde taumelte er am Ufer des Baches entlang, der jetzt immer breiter wurde und in schäumenden Kaskaden über gewaltige, rundgewaschene Geröllsteine rauschte.
Am Abend des vierten Tages begann der Wald sich zu lichten, die Bäume traten weiter auseinander, und zwischen den Stämmen blickte Lauscher schließlich hinaus auf sanfte, grün übergraste Hügel. Als er aus dem Wald herausgestolpert war, war er keines Schrittes mehr fähig, ließ sich ins Gras fallen und schlief sofort ein.
Er mußte lange geschlafen haben, als ihn ein dumpfes Dröhnen weckte, unter dem der Boden zitterte. Das klang wie der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes! Der Schreier kommt wieder, dachte Lauscher und sprang auf. Da preschte der Verfolger schon vom Kamm des nächsten Hügels herunter, geradewegs auf ihn zu. Er stieß wieder seinen heiseren Schrei aus und schwang in der Rechten einen derben Knüppel.
Jetzt, da er ihn zum ersten Mal sehen konnte, erkannte ihn Lauscher sofort. Es war der Pferdeknecht, dem er hatte die Zunge herausschneiden lassen. Er mußte ihm sieben Tage lang durch den Wald gefolgt sein und wollte nun Rache nehmen. Schon war er heran, umkreiste ihn auf seinem Pferd und ließ den Knüppel durch die Luft sausen. Immer enger zog er seine Kreise, und dann schlug er zu. Lauscher sprang zur Seite und wurde an der Schulter von einem Hieb gestreift, der ihm hätte den Schädel zertrümmern können. Der Reiter wahrte mühsam sein Gleichgewicht, riß das Pferd herum und sprengte wieder auf ihn los. Er hatte schon den Knüppel zum nächsten Schlag erhoben, doch er schlug nicht zu; denn im gleichen Augenblick erhob sich aus dem Gebüsch am Waldrand eine süße Melodie, schöner als alles, was Lauscher je in seinem Leben gehört hatte. Er vergaß den Reiter, vergaß die Gefahr, wollte nur noch zuhören und spürte, wie ihm das Wasser in die Augen trat.
Durch den Schleier seiner Tränen sah er, wie zwischen den Büschen ein zierlicher Mann auftauchte, der auf
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