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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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ließ die Flöte sinken. »Bekomme ich jetzt deinen Stein?« fragte der Graue. Doch Lauscher schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn dir nicht geben«, sagte er. »Wie soll ich bei Arnis Leuten meine Rolle als Träger des Steins übernehmen, wenn ich den Stein nicht mehr habe? Er allein ist das Pfand, mit dem ich mir Macht erkaufen kann. Ich muß ihn behalten.«
    Der Graue hatte ihm aufmerksam zugehört. »Was du da vorbringst, klingt nicht uninteressant«, sagte er nach einer Weile. »Wenn du die Dinge so betrachtest, könnte es sich als nützlich erweisen, dir deinen Stein zu belassen. Anderseits scheint dieser tote Gegenstand zuweilen ein gewisses Eigenleben zu entwickeln, das ihn jeder Vorausberechnung entzieht. Mir gefällt das nicht. Willst du ihn mir nicht doch geben?«
    »Auf keinen Fall!« sagte Lauscher mit Bestimmtheit. »Habe ich meinen Stein nicht mehr, dann kann ich auch gleich hier im Nebelmoor zugrunde gehen.«
    »Du bist ziemlich eigensinnig«, sagte der Graue. »Aber du scheinst auch recht genau zu wissen, was du willst – oder wenigstens, was du nicht willst. Ich werde dich nicht zurückhalten.«
    »Also zeigst du mir den Weg?« fragte Lauscher.
    Der Graue schüttelte den Kopf. »Wir wollen dein Schicksal dem Zufall überlassen«, sagte er. »Du kannst schon von Glück sagen, wenn ich dich nicht in die Irre führe. Suche dir deinen Weg selber!«
    Seine Stimme war bei diesen Worten immer leiser geworden. Zum Schluß klang sie wie das Rascheln von Papierblättern oder von dürrem Schilf, ein flaches, wisperndes Geräusch, das nur noch wie von ferne zu Lauschers Ohr drang. Die Erschöpfung nach der mühsamen Wanderung durch das Moor überfiel ihn so jäh, daß er sich nicht dagegen wehren konnte; eine lähmende Müdigkeit stieg schwarz auf, überschwemmte sein Gehirn und löschte sein Bewußtsein aus.
    Er erwachte inmitten milchiger Helligkeit und fand sich in einer alten, halb zusammengesunkenen Moorgrube liegen. Einen Schritt weit vor ihm moderte ein schon wieder grün überwachsener Stapel von Torfziegeln, die man hier irgendwann einmal ausgestochen und dann vergessen hatte. Und dahinter war nichts zu sehen als dichter, weißer Nebel. War hier nicht eine Hütte gewesen? Lauscher versuchte sich zu erinnern, aber er fand nur einzelne Fetzen verworrenen Traumes, die ihm wieder entglitten, sobald er sie zu ordnen versuchte.
    Irgendwo in der Nähe hörte er sein Pferd schnauben. Als er es rief, kam es platschend durch den Morast heran und blieb mit hängendem Kopf neben ihm stehen. Erst beim Aufrichten spürte Lauscher, wie klamm und feucht seine Kleider waren. Er holte die Kruke mit dem Vogelbeergeist aus der Packtasche und trank einen Schluck. Der Schnaps rann brennend durch seine Kehle, aber eine Erwärmung der Glieder wollte sich nicht einstellen. Statt dessen überkam ihn das Gefühl, daß der Nebel in wildem Wirbel um ihn kreiste. Ehe der Schwindel ihn ganz erfaßte, zog er sich mühsam in den Sattel und gab Schneefuß die Zügel frei.
    Mochte die Stute laufen, wohin sie wollte. Nachdem sie mit den Vorderhufen ein paarmal in Sumpflöcher geraten war, bewegte sie sich mit äußerster Vorsicht voran und fand schließlich einen einigermaßen festen Pfad, auf dem sie weitertrottete.
    Lauscher hatte keinerlei Vorstellung, in welche Richtung er ritt, und mit der Zeit fragte er sich, ob es hier überhaupt so etwas wie eine Richtung gab. Die Welt hatte sich aufgelöst zu einem gestaltlosen, undurchsichtigen Brei, der jeden Laut verschluckte. Lauscher fühlte sich allein wie noch nie, und die Angst, aus dem festen Gefüge von Raum und Zeit herausgefallen zu sein in die Leere des Nichts, sprang ihn an wie ein Tier, lähmende Angst, auch er selbst könne von diesem wesenlosen Grau aufgesogen werden.
    Er hätte später nicht sagen können, warum er seine Flöte aus der Tasche holte und anfing zu spielen. Vielleicht war es der Wunsch, der Zeit wieder Struktur zu geben, vielleicht konnte er auch nur die Stille nicht mehr ertragen oder wollte sich seiner selbst vergewissern wie ein Kind, das nachts anfängt zu singen, um seine Angst vor dem Dunkel zu vertreiben. So mag es wohl am ehesten gewesen sein; denn er dachte sich keine neuen Melodien aus, sondern spielte Lieder, die er von Kindheit an kannte oder später irgendwann und irgendwo gehört hatte, Lieder, in denen seine Erinnerung Gestalt gewann und die ihm Bilder von einer Welt malten, in der es Farben gab und Gerüche, Formen und Klänge und das Gefühl von

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