Stein und Flöte
Promezzo seine Einladung noch einmal wiederholt hatte. Der Erzmeister hatte selbst dafür gesorgt, daß Schneefuß einen guten Platz in seinem Stall erhielt und den Knecht angewiesen, das Pferd des Flöters gut zu versorgen. Dann hatte er seine Tochter gerufen und ihr aufgetragen, dem Gast sein Schlafzimmer zu zeigen.
Arnilukka zündete eine Kerze an, steckte sie in einen bronzenen Leuchter und führte Lauscher in das obere Stockwerk. Während er hinter ihr durch einen breiten Flur ging, sah er an den Wänden kunstvoll geschmiedete Waffen im Licht der Kerze aufblitzen. Schließlich öffnete das Mädchen auf der rechten Seite eine schwere Eichentür und ließ Lauscher eintreten. Er spürte weiche Teppiche unter den Füßen und sah ihre verschlungenen Muster in dunklem Rot und Blau aufschimmern, als Arnilukka ihm folgte und den Leuchter auf einen Tisch stellte. Dann huschte sie wie ein kleiner Hausgeist hinüber zur Wand und schlug die Decken auf einem Bett zurück. Lauscher sah ihr zu und fand es äußerst behaglich, auf solche Weise zu Bett gebracht zu werden.
»Brauchst du noch etwas?« fragte sie und drehte sich zu ihm um.
»Nein«, sagte Lauscher. »Du hast schon für alles gesorgt.«
»Dann schlaf gut!« sagte sie. Das Licht der Kerze ließ tausend Sterne in ihren dunklen Augen tanzen, während sie ihn lächelnd anschaute. Dann machte sie einen höflichen (oder vielleicht auch spöttischen?) Knicks und huschte zur Türe hinaus.
Als er am Morgen aufwachte, wußte er zunächst nicht, wo er war. Die Reste eines Traums mischten sich in das Bild eines ihm unbekannten Zimmers, durch dessen Fenster die Sonne auf den rot und blau gemusterten Teppich schien. War da nicht eben noch ein Falke gewesen? So viel wußte er noch von seinem Traum: Er hatte einen Falken fangen wollen, ein herrliches, braun und weiß gefiedertes Tier, das vor ihm herflog, sich von Zeit zu Zeit auf irgendeinen Baumstumpf oder Zaunpfahl niederließ und ihm mit seinen moosgrünen Augen entgegenblickte, bis er ganz nahe herangekommen war und ihn zu greifen versuchte. Doch ehe seine Finger ihn berühren konnten, breitete der Vogel wieder seine Schwingen aus und flog weiter. Irgendwann war dann aus dem Dunkel ein Kind aufgetaucht, hatte ihn ausgelacht und gesagt: »Laß ihn doch fliegen! Er wird dir nur die Hände zerkratzen.« Oder hatte es gesagt das Herz? Er wußte es nicht mehr. Jedenfalls war er an dem Kind vorübergelaufen, immer dem Falken nach. Doch er hatte ihn nie erreicht. Er versuchte, sich an das Kind zu erinnern, aber dessen Bild war schon unter den Horizont seines Bewußtseins gesunken und ließ sich nicht mehr auffinden.
Dafür wußte er jetzt wieder, wie er in dieses Zimmer gekommen war, das ihm bei Tag viel kleiner vorkam als am Abend zuvor im Schein der Kerze, ein Raum mit weißgekalkten Wänden, an denen Gehörne von Steinböcken und Hirschen hingen. An der gegenüberliegenden Seite stand auf einer geschnitzten Truhe ein bronzenes Wasserbecken, und in der Mitte des Zimmers ein Tisch mit zwei Hockern. Neben dem Leuchter auf dem Tisch lag eine Flöte, die golden in der Morgensonne glänzte. Lauscher warf die Decken zurück, stieg in seine Hose und ging barfuß über den flaumigen Teppich hinüber, um sich diese Flöte anzusehen. Sie war tatsächlich aus Gold, aber im übrigen glich sie seinem Instrument in jeder Einzelheit. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie genau. Es war seine Flöte, dessen war er jetzt sicher, denn auch der fünffache Ring an ihrem Ende war vorhanden. Allerdings waren die Buchstaben der Inschrift, die dort eingekerbt waren, nicht mehr zu erkennen, als habe man das Metall in den Rillen geglättet. Er versuchte sich an die Worte zu erinnern, die dort gestanden hatten, aber sie wollten ihm nicht mehr einfallen.
Lauscher fragte sich, wie man eine silberne Flöte in eine goldene verwandeln könne. Oder hatte Promezzo über Nacht eine genaue Nachbildung anfertigen lassen? Er hob die Flöte an die Lippen, um festzustellen, ob ihm das Instrument wie früher gehorchte. Ihr Klang war stärker geworden, schien ihm, und von betörender Süßigkeit. Wie von selbst fanden seine Finger eine Melodie, die von der Freundschaft der Leute Arnis zu den Bergdachsen sprach.
Während er spielte, wurde die Tür geöffnet, und Arnilukka kam herein. Sie trug einen Wasserkrug in der Hand und wartete, bis er die Flöte absetzte, dann sagte sie: »Guten Morgen, Lauscher! Wie gefällt dir deine Flöte? Ich habe sie dir vorhin
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