Stein und Flöte
hinzu: »Vielleicht wird es ganz gut sein, Hunli, wenn ich in deiner Nähe bleibe.«
Damals hat sich Arni entschieden und ist ein Beutereiter geblieben bis zu seinem Tod, dem Tod eines Beutereiters. »Es war schön, mit dir durch die Steppe zu reiten«, sagte er mir beim Abschied. »Aber du hast es ja gesehen: Dem Schrei der Horde kann ich mich nicht entziehen.«
»Und Kruschka?« fragte ich.
»Den Gastfreund muß man schützen«, sagte er. »Auch das gehört zu den Gesetzen der Beutereiter, sonst wärst du nicht mehr am Leben.«
»Du wirst es nicht leicht haben, wenn du noch mehr solcher Gastfreunde gewinnst«, sagte ich.
»Urla hat mir den Stein wohl nicht dazu gegeben, damit ich es leichter habe als andere. Aber ins Unglück bringen wollte sie mich damit wohl nicht.«
Er begleitete mich noch bis an den Rand der Steppe. Dann ritt er zurück zu seiner Horde, und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Während der Sanfte Flöter die Geschichte von Arni mit dem Stein erzählte, war es draußen völlig dunkel geworden. Die Großmutter hatte zwischendurch Feuer aus der Küche geholt und ein paar Kerzen angezündet. Dann setzte sie sich wieder zu den anderen und blickte fast erstaunt auf ihren Mann, der hier so fabelhafte Erlebnisse hervorkramte. Vor ihm auf dem Tisch funkelte im Kerzenlicht sein goldener Zwicker, den er abgenommen hatte, als er anfing zu erzählen. Und je länger er sprach, desto deutlicher trat hinter seinen Apfelbäckchen und Lachfältchen ein anderes Gesicht hervor, gezeichnet von ungewöhnlichen Erfahrungen und nicht ohne einen Zug von Kühnheit. Dieser Mann war mit den Beutereitern über die Steppe geritten, das konnte man sehen.
Die Großmutter hatte sich hie und da nachhaltig geräuspert, wenn ihr die Geschichte gar zu absonderlich klang; doch unterbrochen hatte sie den Erzähler nicht, wenn sie auch manchmal nahe daran zu sein schien. »So viel Aufhebens um einen Stein«, sagte sie jetzt. »Darf ich ihn einmal sehen, Lauscher?«
Lauscher zog den Beutel unter seinem Hemd hervor, nahm den Stein heraus und ließ ihn in ihre offene Hand fallen. »Sieht aus wie irgendein Bachkiesel«, sagte sie enttäuscht. »Ein bißchen bunter vielleicht. Ich möchte mal wissen, was ihr Männer an so was findet.« Sie hielt den Stein gegen das Kerzenlicht. »Ganz hübsch«, sagte sie, als die Flamme den Farbenkranz zum Leben erweckte. »Fast wie ein Auge, das einen anblickt. Ich sag’s ja, das ist was für Männer. Hübschen Augen könnt ihr nie widerstehen, du nicht, Lauscher, und dieser Herumtreiber, den ich geheiratet habe, auch nicht, wie eben zu hören war. Nicht mal vor dieser alten Frau macht er halt, guckt ihr in die Augen und träumt sich was zusammen, träumt und träumt, und wenn er’s erzählt, könnte man fast glauben, er hätte in diesem einen Punkt das ganze Leben gesehen, wie man’s sonst nie sehen kann mit seinem beschränkten Verstand. Wär’ ja auch kein Wunder, wenn ihre Augen so schön waren wie dieser Stein – seht doch, wie die Farben zusammenfließen, man könnte meinen, daß dieses steinerne Auge lebt. Ganz warm wird einem, wenn man hineinschaut in diese Augen in dem schönen Gesicht. Ganz jung sieht es aus, wie du gesagt hast, Flöter, aber die Haare sind nicht weiß, das ist eine junge Frau, die mich anschaut. Komm zu mir, Lauscher, und sieh dir’s an, dieses Gesicht, und vergiß es nicht – du mußt noch weit laufen und wirst viele Umwege machen – ach, mein Junge, wie ein wildes Tier, wirst du durch die Wälder traben, bis sie dir endlich dein zottiges Fell krault …«
Ihre Stimme war, während sie das alles sagte, immer leiser und monotoner geworden, als spreche sie keinen der Menschen an, die mit ihr im Zimmer waren, sondern rede nur mit sich selbst, sage das alles nur so vor sich hin, bis ihre Stimme abbrach. Lauscher war aufgestanden und hinter sie getreten, aber er hatte nur einen Augenblick lang die flüchtige Vision eines Gesichtes eher erahnt als erkannt. Vielleicht war das auch nur eine Täuschung gewesen, hervorgerufen vom unsteten Licht der Kerze, deren Flamme im Luftzug flackerte. Doch kann einem eine Täuschung so ans Herz greifen? Er spürte eine unbeschreibliche Sehnsucht nach diesem Gesicht, das er gar nicht gesehen hatte, Sehnsucht nach einem geliebten Menschen, den man kennt und dessen Gesicht dennoch in der Erinnerung verschüttet bleibt und sich nicht finden lassen will. Er legte seiner Großmutter die Hand auf die Schulter und sagte: »Was
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