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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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redest du da? Wo ist ein Gesicht?«
    Die alte Frau hob langsam den Kopf und blickte ihn mit leeren Augen an. »Gesicht?« murmelte sie. »Habe ich von einem Gesicht geredet?« Allmählich kam sie wieder zu sich. »Da bist du ja Lauscher«, sagte sie, und dabei bekamen ihre Züge einen so weichen, sanften Ausdruck, daß Lauscher in ihnen plötzlich seine stille Mutter wiedererkannte. Während er noch verwundert diese Wandlung beobachtete, nahm sie ihn unvermittelt in die Arme und drückte ihn an ihren umfangreichen Busen. Ehe sich Lauscher noch von seinem Erstaunen erholt hatte, schob sie ihn schon wieder von sich und sagte: »Ach, Junge, ich weiß nicht, was das war. Ihr macht einen ja ganz verrückt mit solchen Sachen. Hier hast du deinen Stein. Heb ihn gut auf. Aber vergiß nicht: Das ist noch nicht alles, ein solches Ding auf deiner Brust zu tragen. Du hast deine Nase ja kaum in das Leben hineingesteckt.«
    »Und selbst bei diesem bißchen schon ziemlich viel Unfug angerichtet«, ergänzte der Sanfte Flöter. »Aber damit wollen wir uns morgen befassen.«
    Das Frühstück am nächsten Morgen ist für diese Geschichte bedeutungslos; daß es ebenso köstlich war wie am Tage zuvor, soll dennoch der Großmutter zu Ehren erwähnt werden. Nachdem der Sanfte Flöter den letzten Schluck Tee getrunken hatte, setzte er seinen goldenen Zwicker auf, den er beim Essen stets ablegte, stand auf und ging hinaus. Gleich darauf war vor dem Fenster am Zaun wieder seine Flöte zu hören. Er unterhält sich schon wieder mit seiner Amsel, dachte Lauscher zuerst, aber dann merkte er, daß es diesmal anders klang, wie eine Art Sprache, die allein mit Tönen auskam und deren Bedeutung man dennoch empfand. Er sah, wie auch Barlo den Kopf hob und lauschte. Die Flöte war für einen Augenblick verstummt und begann dann wieder mit der gleichen lockenden Tonfolge, die ihn aufzufordern schien, hinauszugehen zu dem Platz, von dem die Töne herüberklangen. Er hätte nicht zu sagen gewußt, wie diese Nachricht zustande kam, aber er war dennoch sicher, sie verstanden zu haben. Da sah er auch schon, wie der Stumme seinen Stuhl zurückschob, rasch aufstand und zur Tür ging, als habe ihn jemand gerufen. Also hatte auch er verstanden, was draußen der Großvater flötete. Lauscher sprang auf und lief ihm nach.
    Wie am Abend vorher saß der Sanfte Flöter auf dem Gartenzaun und spielte auf der gleichen hölzernen Flöte. Als er die beiden aus der Tür treten sah, setzte er sein Instrument ab und sagte: »Da seid ihr ja endlich. Komm her, Barlo, jetzt fängt dein Sprachunterricht an.«
    »So meinst du das also«, sagte Lauscher ein wenig enttäuscht. »Ich hatte angenommen, du brauchst nur ein paar Töne auf deiner Silberflöte zu spielen, und schon kann er wieder reden.«
    Der Großvater sprang vom Zaun und schüttelte so heftig den Kopf, daß sein Zwicker bedenklich ins Wanken geriet. »Wofür hältst du mich eigentlich?« sagte er wütend. »Glaubst du, ich kann ihm einfach seine Zunge nachwachsen lassen? Bin ich ein Zauberer? So einfach läßt sich das nicht aus der Welt schaffen, was du angerichtet hast. Sei still jetzt, aber hör gut zu! Du wirst es noch brauchen.«
    Und dann begann der Sanfte Flöter, den Stummen in seiner Kunst zu unterweisen. Er hatte dabei seine eigene Methode: Während der ersten Woche lehrte er ihn nur einen einzigen Ton, nämlich jenen, den das Instrument hervorbringt, wenn man keines der Grifflöcher schließt. »Blas einfach rein und denk dir was dabei!« sagte er zu Barlo. »Stell dir zum Beispiel vor, du hast Angst. Wie klingt das? So? Nein, du mußt dir das schon ein bißchen genauer vorstellen. Ja, das ist schon besser! Und nun denk mal an irgendwas, das dir Freude macht. Vergiß all das Traurige, das ich noch immer heraushöre! Sei fröhlich, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen! Gut, das kommt der Sache schon näher –« und so probierte er mit ihm alle möglichen Imaginationen und Gemütslagen aus, bis es dem Stummen gelang, in diesem einzigen Ton die unterschiedlichsten Vorstellungen und Stimmungen zum Klingen zu bringen.
    In der zweiten Woche kam dann ein zweiter Ton hinzu, in der dritten ein dritter, bis Barlo nach sieben Wochen nicht nur die sieben Grundtöne seiner Flöte greifen, sondern in diesen Tönen vieles von dem ausdrücken konnte, was er empfand. »Mit dem Herzen mußt du spielen«, wurde der Sanfte Flöter nicht müde zu wiederholen, »erst dadurch bekommen die Töne Farbe und

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