Stein und Flöte
Fenster stand und in das Land hinausblickte, das sich mit Wiesen und Baumgruppen unter ihm ausbreitete, durchzogen von dem breiten, in weiten Windungen durch die Ebene dahinströmenden Braunen Fluß, dessen Wasser bis zum Horizont unter der Sonne spiegelte, versuchte er sich der Ereignisse des Vortages zu erinnern. Er entsann sich vage des Gesprächs mit dem Großmagier und wußte noch, daß ihn dessen Äußerungen auf irgendeine Weise irritiert hatten. Aber den Zuchthengst hatte er ihm schließlich geschenkt, das wußte er noch. Und heute sollte er vor dem Großmagier spielen. Er holte seine Flöte hervor und probierte ein bißchen auf ihr herum, ohne recht zu wissen, was er spielen sollte. Wie von selbst stellten sich wieder Reminiszenzen an die edle Gesinnung von Arnis Leuten ein, und während er sich selbst zuhörte, fiel ihm ein, daß der Großmagier gestern abend diese Gesinnung in Zweifel gezogen hatte. Doch dann stiegen in seiner Erinnerung Narzias grüne Augen auf, und unter ihrem Blick und den Einflüsterungen seiner Flöte war er um so weniger geneigt, solche Zweifel für berechtigt zu halten. Was wußte dieser alte Mann schon von Arnis Leuten? Er hatte nie bei ihnen gelebt und Höni nur ein paar Tage lang beobachten können oder besser: den jungen Mann, der Höni damals vor vielen Jahren gewesen war. Und seine Enkelin kannte er überhaupt nicht. Wenn er wüßte, daß sie seine Augen geerbt hatte, würde er nicht so über sie reden. Lauschers Gedanken richteten sich jetzt nur noch auf sein Falkenmädchen, ein Traumbild stieg vor ihm auf, in dem er Narzia auf schmalen Flügeln am Himmel segeln sah. Oder war er es selbst, der unter den Wolken schwebte, frei vom Wind emporgetragen? Er ließ den Falken in der Melodie seiner Flöte so hoch aufsteigen, bis er in der Bläue des Himmels verschwand, und setzte sein Instrument ab.
»Das war ein schönes Lied«, sagte der Hüter der Falken, der unbemerkt hinter ihm eingetreten war. »Ich sah meine Falken fliegen, während ich dir zuhörte. Mir scheint, auch du liebst diese edlen Vögel.«
»Einen ganz besonders«, sagte Lauscher.
»Gehört er dir?« fragte der Hüter der Falken.
»Noch nicht«, sagte Lauscher, »aber zur Hälfte habe ich ihn schon gewonnen.«
Der Hüter der Falken lächelte. »Man braucht viel Geduld, um einen Falken zu fangen. Und noch mehr, um ihn zu zähmen«, sagte er.
»Das habe ich schon gemerkt«, sagte Lauscher und begann sich zu fragen, ob sein Gastgeber ahnte, von wem hier eigentlich die Rede war. Doch dieser ließ das Thema fallen und bat ihn zum Essen.
Am späten Nachmittag ließ der Großmagier Lauscher zu sich bitten. Als er mit ihm allein war, ließ er sich die Flöte zeigen und betrachtete sie lange. Besonders schien ihn der fünffache Ring am Ende des vergoldeten Rohrs zu interessieren. Er strich mit dem Finger über die Einkerbungen, als wolle er etwas ertasten, das seine Augen nicht erkennen konnten. Schließlich gab er Lauscher die Flöte zurück und sagte: »Spiel mir irgend etwas, das dir gerade in den Sinn kommt.«
Lauscher war zumute, als habe er alle Melodien vergessen, die er je gekannt hatte. Dennoch setzte er die Flöte an die Lippen und überließ es dem Instrument, seine Finger zu führen. Und wieder begann die Flöte, von Arnis Leuten zu erzählen, deren Freundschaft für jeden, der sie gewann, nur Vorteile bringen konnte. Überall trabten sie mit ihren Saumpferden durch das Land und zahlten gutes Silber für die Waren, die man ihnen anbot, friedliche Männer, die den Kriegsschrei der Horde vergessen hatten und stets höfliche Reden im Munde führten, immer bemüht, der erhabenen Weisheit Arnis zu folgen …
»Laß das!« sagte der Großmagier und unterbrach Lauschers Spiel mit einer schroffen Handbewegung.
»Hat dir mein Spiel nicht gefallen?« fragte Lauscher bestürzt.
»Du bist ein guter Flöter, wenn du das hören willst«, sagte der Großmagier. »Aber von diesen Leuten Arnis habe ich jetzt genug erfahren. Erzähle mir von dem Mann, der dir diese Flöte gegeben hat!« Und als Lauscher anfangen wollte zu reden, hob er die Hand und fügte hinzu: »Nicht mit Worten! Laß deine Flöte von ihm erzählen!«
Diese Aufforderung traf Lauscher völlig unvorbereitet. Ihm wurde bewußt, daß er seit langem nicht mehr an seine Lehrzeit bei seinem Großvater gedacht hatte. Er begann mit dem Ruf der Amsel, die dem Sanften Flöter als Botin gedient hatte, und dieser Dreiklang weckte die Erinnerung an die grünen
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