Stein und Flöte
bereit ist, etwas dazuzulernen. Und wenn Finistar das nicht einsehen will, wird man ein wenig nachhelfen müssen. Wenn es ihm morgen nicht gelingt, den Kranken zu heilen, soll der Flöter seine Kunst an ihm erproben. Ich will selbst dabeisein, und du wirst mich begleiten.‹
So geschah es dann. Ernebar verhielt sich an diesem Morgen ruhig. Durch einen Spalt in der Tür konnte man sehen, daß er bewegungslos in einer Ecke des kahlen Raums hockte. Finistar hatte wieder einen seiner Kräutersäfte zusammengemischt, doch er schickte zuerst vier starke Männer zu Ernebar hinein, damit sie diesen festhielten, während er ihm den Heiltrunk eingab. Dann zog er sich eilig zurück, und dies keinen Augenblick zu früh; denn sobald die Männer den armen Stallaufseher losgelassen und die Tür wieder verriegelt hatten, fing Ernebar an zu schreien und zu toben. Da trat der Sanfte Flöter vor, nahm sein Instrument zur Hand und fing an zu spielen.
Es fällt mir schwer zu beschreiben, was das für eine Musik war. Es klang, als ob der Flöter jemanden rief, der weit entfernt in einem Versteck saß und sich vor lauter Angst nicht herauswagte. Der Flöter gab sich ihm in seinem Spiel völlig preis, zeigte sich ihm nackt und ohne jeden Schutz, hob gleichsam die bloßen Hände auf und sagte, er solle herauskommen und keine Angst mehr haben. Und während er noch spielte, gab er mir einen Wink, ich solle den Riegel an der Tür zurückstoßen. Ich schaute den Großmagier fragend an, und als er mir zunickte, stieß ich den Riegel zurück. Der Flöter spielte noch so lange, bis sich die Tür langsam öffnete. Dann gab er mir sein Instrument, ging auf Ernebar zu, der jetzt auf der Schwelle stand, und nahm ihn in die Arme wie ein Kind, das sich vor irgend etwas fürchtet und getröstet werden will.
Ernebar sah aus wie einer, der aus einem langen Schlaf aufwacht. Er machte sich schließlich aus der Umarmung des Flöters los, blickte verwirrt um sich und fragte, was das alles zu bedeuten habe und wer dieser fremde Mann sei, der ihn in den Armen gehalten hatte. Da sagte der Flöter zu ihm, er sei ein bißchen krank gewesen, aber nun habe er wohl das Schlimmste überstanden.
Finistar stand daneben, und man konnte in seiner Miene lesen, daß er über diese Entwicklung nicht sonderlich erfreut war. Er hielt noch immer das Gefäß in der Hand, aus dem er den Kranken hatte trinken lassen, und für diese Medizin begann sich nun der Flöter zu interessieren. Er fragte den Meister der Kräuter, ob er ihm erlauben wolle, einen Blick auf diesen Absud zu werfen. Finistar wollte erst aufbrausen, doch ein Blick des Großmagiers genügte, um ihn im Zaum zu halten und an seine Pflichten zu erinnern. Er reichte dem Flöter das Gefäß und sagte, wenn auch nicht eben freundlich: ›Einem Magier ziemt es, sein Leben lang hinzuzulernen.‹
Der Flöter betrachtete den Inhalt des Krügleins, roch daran, und ich hatte den Eindruck, daß er fast unmerklich den Kopf schüttelte. Dann gab er Finistar das Gefäß zurück und murmelte etwas, das wohl nur für dessen Ohren bestimmt war. ›Zu Starkes gibst du ihm‹, meinte ich zu verstehen, aber ich kann mich auch täuschen; mir schien jedoch, daß Finistar unversehens blaß wurde, wenn ich mich recht erinnere. Der Flöter nahm jedenfalls keine Notiz davon und nannte beiläufig ein paar Kräuter, die er für die weitere Behandlung vorschlagen würde. Dieses Wissen des Flöters um die Wirkung von Heilkräutern verwirrte den armen Finistar vollends. Er verbeugte sich fahrig und eilte davon, ›um einen Versuch damit zu machen‹, wie er sagte. Er war wohl froh, sich mit Anstand zurückziehen zu können. Ernebar war von diesem Tag an frei von solchen Anfällen, wenn er auch seither ein etwas ängstliches Gehaben zeigte, etwa wie ein Kind, das man zu Unrecht hart geschlagen hat. Wir mußten deshalb später den Plan aufgeben, ihn als Meister der Pferde unter die Kleinmagier aufzunehmen. Vor ein paar Jahren ist er dann gestorben.«
Der Großmagier schwieg eine Zeitlang, als suche er einen geeigneten Übergang, um noch etwas zur Sprache zu bringen. »Nun weißt du«, sagte er dann, »wie ich deinen Großvater kennengelernt habe. Aber es gibt noch einen anderen Grund, aus dem ich dir diese Geschichte erzählt habe. Finistar lebt noch immer als Meister der Kräuter in meinem Haus, und ich werde ihn jetzt in einer Sache befragen müssen, die auch dich angeht.« Er läutete mit seiner silbernen Tischglocke, und als gleich darauf
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