Stein und Flöte
Hügel jenseits der Wälder von Barleboog. Der Sanfte Flöter kam mit tänzelnden Schritten aus den Büschen hervor und spielte das süße, friedliche Lied, mit dem er den wütenden Barlo besänftigt hatte, jene Melodie, bei der einem die Tränen in die Augen traten. Unter den alten Linden in der Talsenke duckte sich das niedrige Haus mit den Blumenkästen vor den Fenstern, in dem Lauscher die letzten Tage des Sanften Flöters erlebt hatte; er lag wieder auf seinem Bett, sah die Schatten der belaubten Lindenzweige im Mondlicht über die Wände des Zimmers geistern und hörte, wie das Leben seines Großvaters noch einmal im Spiel seiner Flöte Gestalt gewann, ein aus unzähligen Ereignissen verflochtenes Muster, vielgestaltig und doch in eine Ordnung gefügt, die das Einzelne nicht erstarren ließ, sondern selbst das kleinste, scheinbar nebensächlichste Ornament zur Keimzelle werden ließ für immer neue, in Wellen sich ausbreitende Entfaltungen, bis das kleine Haus erfüllt war von einer Welt, die alles umfaßte, was geschehen war und noch geschehen würde, ohne daß diese überwältigende Fülle das bescheidene Mauerwerk sprengte. Wieder sah er sich am Bett seines Großvaters stehen, der, die Flöte in den Händen, still und heiter auf dem weißen Leinenzeug lag, sah sich durch die leeren Räume gehen, blickte auf die säuberlich geordneten Töpfe und Schüsseln auf den Wandborden in der Küche, hob die Falltür und stieg hinab in das dunkle Gewölbe des Kellers, tappte vorüber an Regalen mit Gurkentöpfen, schob die Kräuterelixiere seines Großvaters zur Seite und tastete nach den verstaubten Krüglein, deren Aufschriften Gutes und Böses verhießen, Kraft und Versteinerung, süßen Traum und Sturz in schwarze, bodenlose Abgründe, in denen alle Sehnsüchte zu gefrorener Angst erstarrten und sich auflösten in der Leere der Bewegungslosigkeit, des Unhörbaren und Wesenlosen, des Nichts …
Als Lauscher zu sich kam, schmerzte in seinen Ohren noch der Nachhall eines einzigen, schrillen Tones, der wer weiß wie lange die Luft des Raums zersägt haben mußte, ehe er erstarb. Der Großmagier saß wie in Abwehr zurückgelehnt, und seine sonst so gleichmütige Miene zeigte einen Anflug des Grauens. Er mußte sich erst fassen, ehe er sprechen konnte, und dann sagte er: »Auf diesen Weg hat dich nicht dein Lehrmeister geschickt, Lauscher. Ich habe den Mann gekannt, den die Leute den Sanften Flöter nannten. Setz dich her zu mir. Ich will dir ein wenig von ihm erzählen.
Es liegt etwa 30 Jahre zurück, daß dein Großvater nach Falkenor kam. Ich war damals eben als Hüter der Falken in den Kreis der fünf Kleinmagier aufgenommen worden. Vorher hatte ich im Haus der Falken gedient und schließlich dort die Aufsicht geführt, denn ich mußte den Umgang mit Greifvögeln von Grund auf lernen. Zu dieser Zeit hatte ich mich mit dem Vorsteher der Pferdestallungen angefreundet, einem Mann namens Ernebar. Dieser Ernebar war ein ruhiger, bedächtiger Mensch; nie aufbrausend oder gar zornig, und deshalb hatte ihm der Großmagier seine Pferde anvertraut.
Um so mehr erstaunte es mich wie auch die anderen Bediensteten, als Ernebar eines Morgens, während ich gerade vor dem Haus der Falken stand, in offenkundiger Wut aus dem großen Haus stürzte. Er stammelte sinnloses Zeug, der Schaum stand ihm vorm Mund, und ehe irgendeiner ihn aufhalten konnte, war er schon bei den Ställen, riß das Tor auf, machte die fünfundzwanzig Hengste los, die dort standen, und trieb sie unter wüstem Geschrei und Peitschenhieben hinaus auf den Hof. Die Pferde rasten wie besessen zwischen den Mauern umher, bäumten sich auf, keilten aus und rannten jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte. Unglücklicherweise war zu diesem Zeitpunkt gerade das Eingangstor geöffnet worden, und ehe es die Wachen wieder schließen konnten, hatten die Pferde diesen Fluchtweg entdeckt und preschten darauf zu.
Uns allen stockte der Atem, als in diesem Augenblick ein schmächtiger, zartgliedriger Mann mit lockigem grauen Haar seelenruhig durch das Tor schlenderte und dabei auf einer silbernen Flöte blies. Er nahm den ganzen Aufruhr überhaupt nicht zur Kenntnis, ging mit fast tänzelnden Schritten geradewegs auf die heranpolternden Pferde zu und schien völlig in sein Spiel vertieft zu sein. Jedermann sah ihn schon bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt unter den Hufen liegen, doch es kam anders: Sobald die Pferde seine Flötenmelodie hörten, fielen sie in Schritt,
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