Stein und Flöte
anschaute.
»Du scheinst ihm ja allerhand zuzutrauen«, sagte Steinauge, und nach einer Weile setzte er hinzu: »Vielleicht hätte er das sogar vermocht, aber er hatte wohl anderes im Sinn.«
»Zum Beispiel, dir noch einen Gefährten mit auf die Wanderschaft zu geben«, sagte das Wiesel, und aus der Art, wie es das ›noch‹ betonte, war eine Spur von Eifersucht herauszuhören. Steinauge merkte das sehr wohl und sagte: »Hast du vor, den Winter bei meiner Ziegenherde in der Höhle zu verbringen?«
Das Wiesel rümpfte die Nase, daß seine nadelscharfen Zähne sich entblößten, und sagte: »Dazu könnte mich nicht einmal die Freundschaft zu dir bringen, und ich kann nur hoffen, daß du mir diese offene Rede nicht verübelst. Dieser Stock, den der Alte dir zur Gesellschaft gegeben hat, besitzt vermutlich eine weniger empfindliche Nase; allerdings wird er wohl ein ziemlich schweigsamer Gefährte sein.«
»Zumindest kann man sich damit seiner Haut wehren«, sagte Steinauge, der sich mittlerweile, so weit dies das niedrige Gebüsch zuließ, aufgerichtet hatte, und schwang den Knüppel prüfend durch die Luft.
»Ich bezweifle, daß der Alte ihn zu diesem Zweck so sorgsam mit einem Gesicht versehen hat«, sagte Nadelzahn. »Dieses Auge macht mir eher einen friedlichen Eindruck.«
Dieser Feststellung war kaum zu widersprechen, doch Steinauge verspürte wenig Lust, sich weiter über die ihm selbst noch verborgenen Eigenschaften dieses sonderbaren Holzwesens zu unterhalten, dessen braunäugiger, gelassener Blick ihn eher verunsicherte als zu irgendwelchen Äußerungen ermutigte. »Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte er deshalb. »Ich möchte hier oben nicht übernachten.«
An diesem Tag kamen sie, zunächst unter den wippenden Latschenzweigen hindurchkriechend und später dann endlich wieder unter dem dichteren Dach der Bergfichten wandernd, über das Joch und bis hinunter in die Wälder auf die andere Seite des Gebirges, und dort umrundeten sie am dritten Tage schließlich das nördliche Ende der großen Felswand, die bald wieder hoch über ihnen aufragte.
Als Steinauge hier einen halben Tag lang auf vertrauten Pfaden durch das Buschwerk getrottet war, sagte das Wiesel: »Du bist bald zu Hause, Steinauge. Ich rieche deine Ziegen.«
So fein war Steinauges Geruchsinn immer noch nicht, aber nach einer Weile stach auch ihm der Bocksgestank in die Nase, und als sich dann hangabwärts ein Ausblick zwischen den Sträuchern öffnete, sah er die Herde unten auf der übergrasten Berglehne weiden. Ihr durchdringender Geruch hatte inzwischen eine solche Intensität angenommen, daß Nadelzahn keinen Schritt weit näher zu bringen war. »Warte einen Augenblick«, sagte er und sprang seitwärts ins Unterholz. Gleich darauf kam er zurück und zerrte ein Kaninchen hinter sich her. »Hier hast du zum Abschied noch einen Braten«, sagte er. »Ich bin gern mit dir übers Gebirge gewandert, aber hier trennen sich unsere Wege. Ich werde wohl noch ein Stück weiter nach Süden laufen. Du findest mich dort, wo die große Felswand endet, falls du etwas von mir willst. Ich werde dir immer mit Vergnügen zu Diensten sein, auch wenn du manchmal etwas sonderbare Angewohnheiten hast.«
»Darauf werde ich bei Gelegenheit gerne zurückkommen«, sagte Steinauge. »Vor allem im nächsten Frühjahr, wenn ich mich wieder auf den Weg mache. Bis dahin werde ich mich wohl mehr oder minder im Dunstkreis meiner Ziegen bewegen.« Er dankte dem Wiesel noch für all die saftigen Braten, die es ihm verschafft hatte, und dann war Nadelzahn vom einen zum anderen Augenblick verschwunden.
Steinauge wollte schon zwischen den Haselstauden hervortreten und sich seinen Ziegen zeigen, als er merkte, daß er ziemlich ungelegen gekommen war. Einhorn war offensichtlich damit beschäftigt, seine angenehmeren Pflichten als Leitbock der Herde zu erfüllen. Er trieb eine der Ziegen vor sich her, immer bergauf und geradewegs auf Steinauge zu. Dabei ging er nicht eben sanft mit seiner Auserwählten um, stieß sie mit seinem Horn in die Seite und hetzte sie dann wieder ein Stück weiter, doch das gehörte wohl zu den böckischen Liebesspielen. Schließlich stellte er, dicht vor dem verborgenen Zuschauer, das Tier und besprang es. Steinauge erlebte diesen Vorgang nicht ohne Erregung, ja er fühlte sich während dieser Augenblicke der Zwitterhaftigkeit seines Körpers fast schmerzhaft ausgeliefert, zugleich angewidert und mitgerissen von der bocksbrünstigen Kraft des
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