Stein und Flöte
aber jetzt weiß ich’s wieder. Er lag verwundet am Boden und nannte mich ›einen halben Bock‹, ehe er das sagte. Er meinte damit wohl, daß ich früher einmal anders ausgesehen hätte. Ich muß wohl solche Beine gehabt haben wie diese Hirten. Oder wie dieses Mädchen. Daran mag es wohl liegen, daß mir dieses Bocksgestell so zuwider ist.«
»Du solltest diesen Teil deines Körpers nicht verachten, denn er trägt dich immerhin«, sagte der Alte. »Zudem wirst du wohl noch einige Zeit auf diesen Hufen durch die Wälder traben müssen. Aber wie war das mit diesem Mädchen? Kannst du dich auch an dieses Kind nicht erinnern?«
Steinauge versuchte sich das Gesicht des Mädchens vorzustellen, und das gelang ihm über alles Erwarten gut. Er sah es so deutlich vor sich, als sei es ihm seit langer Zeit vertraut und nicht nur von dieser kurzen Begegnung am Waldrand. Vor allem die Art, wie es ihn angeschaut hatte, ehe das Entsetzen in diese Augen trat. »Die Augen«, sagte er. »Diese merkwürdigen Augen. Ich könnte sie nicht beschreiben, aber an diese Augen kann ich mich erinnern.«
»Siehst du«, sagte der Alte und grinste vergnügt, als sei nun schon alles in bester Ordnung. »Geh einfach durch diese Tür, und du wirst auch dich finden.«
Während Steinauge noch über diese sonderbare Aufforderung nachdachte, ließ der Sturzregen, der bisher mit unverminderter Heftigkeit niedergeprasselt war, plötzlich nach, der Ausblick auf die Landschaft öffnete sich wieder, als würde ein Vorhang zur Seite gezogen, ein paar einzelne schwere Tropfen fielen noch spritzend auf die Steine vor der Höhle, und dann rissen auch schon die Wolken auseinander, trieben in der raschen Windströmung davon und gaben den blanken Himmel frei. Unter der Sonne begann der nasse Boden zu dampfen, über diesem nebligen Gewaber ragten die steilen, schwarzen Pyramiden der Bergzirben in den grünblauen Himmel, und dahinter türmten sich glasklar die gezackten Silhouetten der Berggipfel.
Der Alte erhob sich, rieb sich den steifen Rücken und sagte: »Da können wir uns ja wieder auf den Weg machen. Gute Reise! Und dir guten Fang, Nadelzahn! Und grüß deine Ziegen, Faun!«
Steinauge war auf diesen raschen Abschied nicht gefaßt gewesen. »Kannst du nicht noch ein Stück mit uns gehen?« fragte er. Der Alte schüttelte den Kopf: »Ich muß dort hinunter«, sagte er und zeigte zum Tal, aus dem Steinauge zuvor aufgestiegen war.
»Schade«, sagte Steinauge, »wenn man mit dir spricht, wird einem mancherlei klarer, und mir scheint, daß ich noch viel zuwenig begriffen habe.«
»Bei dieser Meinung solltest du bleiben«, sagte der Alte. »Das ist noch lange nicht alles, was du erfahren hast. Aber ich will dir einen Gefährten mitgeben, damit du ein bißchen Unterhaltung während des Winters hast. Deine Ziegen sind sicher liebenswerte Geschöpfe, aber als Gesprächspartner auf die Dauer wohl ein wenig einseitig.« Damit verließ er die Höhle und ging hinüber zu dem Platz, an dem die hohe Zirbe bis zum Himmel hinauf gebrannt hatte. Der Sturzregen hatte das Feuer gelöscht, und nun lagen dort nur noch schwarze Trümmer verstreut, aus denen vereinzelte Rauchfäden aufstiegen. Steinauge folgte dem Alten und schmeckte den harzigen Brandgeruch auf der Zunge, sobald er zwischen die verkohlten Reste des Baumriesen trat.
Der Alte blieb an der Stelle stehen, an der dieser mächtige Stamm bis in die Wurzeln hinein auseinandergeborsten war, und stocherte in dem zusammengestürzten Haufen von verkohlten Brocken und Asche. Schließlich zog er ein mehr als armlanges, an einem Ende knollig verdicktes Stück Holz hervor, holte ein Messer aus der Tasche und begann die schwarze Kruste sorgsam abzulösen.
»Du lebst ja noch, mein Alterchen«, murmelte er dabei. »Bist ja noch lange nicht tot und verdorben.«
Steinauge schaute zu, wie der Alte mit geschickten Schnitten das blanke, rötliche Holz freilegte und zunächst einen hüfthohen Stecken glatt schabte. »Das ist nur, damit das Ding auch einen praktischen Nutzen hat«, erklärte er, ohne daß für Steinauge die Angelegenheit damit verständlich geworden wäre. Den Alten kümmerte das nicht weiter, ja, Steinauge hatte den Eindruck, daß hier nicht er selbst, sondern dieses hölzerne Ding angesprochen wurde, auf das der Alte so viel Mühe verschwendete, und dieser nahm sich jetzt das klumpige Ende des Stockes vor und murmelte: »Keine Angst, Alterchen, ich tu dir schon nicht weh, wenn ich dich aus deiner verbrannten
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