Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
Steinauge auf diese graustreifige, sprühende Wand starrte, desto mehr überkam ihn das Gefühl, aus der greifbaren Welt enthoben zu sein in einen Bereich jenseits der begehbaren Landschaft, in den man unversehens aufgenommen wurde, ohne ihn gesucht zu haben, und den man auch nicht aus eigenem Entschluß verlassen konnte, ohne durch den feucht flirrenden Vorhang ins Bodenlose zu stürzen.
    Nach einer Weile wendete sich der Alte Steinauge zu und sagte: »Bevor man redet, soll man miteinander essen. Seid meine Gäste, Steinauge und auch du, Nadelzahn.« Er holte aus seiner Tasche ein bretthartes Fladenbrot und verwunderlicherweise auch ein kleines Stück frisches Fleisch, als habe er beizeiten für die Bewirtung eines Wiesels vorgesorgt. Außerdem brachte er eine aus rötlichem Birnenholz gedrechselte Flasche zum Vorschein, die er Steinauge anbot: »Trink einen Schluck Rotwein«, sagte er, »damit das trockene Brot besser rutscht.« Steinauge meinte, seit langem nichts derart Köstliches gegessen zu haben. In seinem Mund mischte sich das mit Fenchel und Koriander gewürzte Brot mit dem herben Rotwein zu einer Speise von unvergleichlichem Geschmack, den er, langsam auf den harten Brocken kauend, bis zum letzten Krümel auskostete, während das Wiesel sich an dem Fleisch gütlich tat.
    Als er satt war und auch der Alte seine Mahlzeit mit einem letzten Schluck Wein beendet hatte, sagte dieser: »Hast du nun auf deiner Wanderschaft gefunden, was du gesucht hast?«
    Steinauge war überrascht von dieser Frage. Hat er überhaupt etwas gesucht? Oder war er nur ziellos durch Wald und Gebirge gezogen? Aber dann schien ihm wieder, daß er doch auf irgend etwas aus gewesen sein müsse, als er die Qual auf sich genommen hatte, das dünn bewachsene Joch zu überqueren, und sich den Sommer lang am Rande des flachen Tals herumgetrieben hatte. Aber worauf? Er wußte es nicht zu sagen. »Was meinst du denn?« fragte er, »was ich gesucht haben soll?«
    »Das mußt du selber herausfinden«, sagte der Alte. »Gibt es so wenig, was du erfahren möchtest?«
    »Wenig?« fragte Steinauge. »Eher zuviel. Als ich hierher kam, gab es für mich nicht viel mehr als meine Ziegenherde jenseits des Gebirges. Aber hier schien es mir manchmal, als redeten die Hirten von einem, der ich vielleicht einmal gewesen bin. Und da war auch ein Mädchen, das mich zu erkennen glaubte, ehe es mich in meiner zottigen Bocksgestalt erblickte. Wahrscheinlich hat es sich geirrt, aber ich frage mich seither, ob das alles nicht doch etwas mit mir zu tun hat.«
    »Fragst du dich das wirklich nur?« sagte der Alte und schaute ihm ins Gesicht. Seine Augen hatten die Farbe von graugrün gesprenkeltem Moosachat, der auf eine merkwürdig zwingende Weise von innen heraus leuchtete, ohne daß eine Lichtquelle vorhanden war, auf die man dieses Leuchten hätte zurückführen können, und in diesem Licht hoben sich die Erfahrungen, die Steinauge in den vergangenen Tagen gemacht hatte, immer deutlicher aus der trüben Suppe seiner vagen Vorstellungen, begannen sich klarer abzuzeichnen und ordneten sich nach und nach zu einem überschaubaren Bild, in dem sich eins zum andern fügte, vereinzelte Wörter traten neu ins Bewußtsein, verknüpften sich mit anderen Wörtern und eröffneten so Zusammenhänge, die bisher im Unerkennbaren verborgen geblieben waren. Er blickte in die Augen, in denen noch immer die eben ausgesprochene Frage stand, und sagte: »Nein, das frage ich mich in Wahrheit gar nicht. Ich weiß es. Aber ich kann mich der Dinge nicht erinnern, die sie diesem Flöter vorwarfen, der ich wohl einmal gewesen sein muß.«
    »Was warfen sie ihm vor?« fragte der Alte.
    »Die Hirten sprachen nicht besonders freundlich von ihm«, sagte Steinauge. »Sie waren der Meinung, er habe ihre Leute auf irgendeine Weise betrogen.«
    »Und das Mädchen?« fragte der Alte.
    Steinauge erinnerte sich an das Aufleuchten in den merkwürdigen Augen des Mädchens, als es ihn hinter den Büschen entdeckt hatte. »Das Mädchen«, sagte er, »freute sich, als es diesen Flöter zu erkennen glaubte. Doch als es mich dann sah, wie ich bin, erschrak es und lief davon.«
    »Warum wohl?« fragte der Alte.
    »Warum wohl?« wiederholte Steinauge und versuchte den dunklen Vorhang zu durchdringen, der sich über seine Vergangenheit gelegt hatte. »Ich muß mich wohl verändert haben«, sagte er. »Einhorn hat einmal zu mir gesagt, ich sei früher ›so ein Dünnbein‹ gewesen. Ich hatte das ganz vergessen,

Weitere Kostenlose Bücher