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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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von der Sonne den Pelz wärmen. Eine Zeitlang blickte er hinaus auf den Wiesenhang, über dessen schon welkenden Grasbüscheln zahllose schlanke Halme mit fedrigen Rispen emporsprießten und sich in rasch dahingleitenden Wellen unter dem Wind beugten. Darüber schlief er ein, dahingleitend auf diesem Meer von nickenden Halmen, deren leere Fruchtstände silberweiß in der Sonne aufschimmerten, treibender Schaum auf den Wogen, die den Schläfer irgendwo hinspülten, und er ließ sich treiben, nahm nichts weiter wahr als dieses leise sirrende Gewässer, bis er nach langer Zeit fern am Himmel einen schwebenden Vogel entdeckte, der sich auf ausgebreiteten Schwingen vom Wind tragen ließ, winzig zunächst und wie mit spitzer Feder leicht gewinkelt in den blanken Himmel gezeichnet, doch der Vogel pfeilte rasch näher, wurde größer, tauchte herab, und mit ihm kam eine Angst herangeflogen, die den gläsernen Himmel zerschnitt; denn dort, wo der Vogel herangezogen war, klaffte ein Sprung in der blaugrünen Kuppel, der sich rasch verbreiterte, und durch diesen Riß brach bodenlose Schwärze herein, die alles Licht zu verdrängen begann, und schon im nächsten Augenblick überdeckte der Vogel mit seinen Schwingen den Himmel von einem Ende bis zum anderen und stieß mit vorgestreckten Krallen herunter auf den Schläfer, der schon den starren Blitz der grünen Augen wahrnahm, während er noch im Schlaf die Arme schützend hochriß. Als der Stoß des scharfen Schnabels seinen Hals traf, wachte er auf.
    Zunächst sah er nichts als wirbelndes braunes Gefieder und spürte, wie harte Schwingen seine erhobenen Arme streiften. Er schlug blindlings um sich, traf einen Körper, der seitwärts flatterte, sich eine Strecke weit taumelnd dicht über den dürren Grashalmen hielt und dann auf einen modernden Baumstrunk niederließ. Jetzt erst erkannte Steinauge, wer ihn angegriffen hatte. Es war ein Falke, der dort wenige Schritte entfernt von ihm hockte, sein zerzaustes Gefieder mit dem Schnabel zu glätten versuchte, sich dann aufrichtete und aus grünen Augen zu ihm herüberstarrte.
    Obwohl Steinauge jetzt sehen konnte, daß der Falke nicht größer war als irgendein anderer auch, umklammerte die Angst noch immer sein Herz. Ihm graute vor diesem Vogel, der aus dem wüsten Traum in die Wirklichkeit hinübergewechselt war oder auch aus einer Vergangenheit, deren er sich nicht mehr erinnern konnte. Aber er wußte jetzt, daß es dieser Falke war, der ihn im vergangenen Jahr hier beobachtet hatte.
    »Was willst du von mir?« fragte er.
    »Das weißt du genau«, sagte der Falke, »und wenn dich nicht irgend etwas gewarnt hätte, besäße ich es jetzt.«
    Steinauge faßte nach seinem Hals, wo ihn der Schnabel des Falken getroffen hatte, und spürte die Schnur des Beutels unter den Finger. »Den Stein«, sagte er, »du willst den Stein.«
    »Du hast ihn uns gestohlen«, sagte der Falke.
    »Wem soll ich ihn gestohlen haben? Den Falken?« fragte Steinauge.
    »Jenen, über die ich herrsche«, sagte der Falke.
    Steinauge versuchte die Mauer zu durchdringen, die ihn von der Vergangenheit trennte, aber viel weiter als bis zu seiner Begegnung mit den Ziegen gelangte er nicht zurück. Dennoch war er sicher, daß der Stein ihm gehörte. »Du lügst«, sagte er, »das ist mein Stein.«
    »Woher willst du das wissen?« sagte der Falke. »Du weißt ja nicht einmal, wer du bist.«
    »Aber du scheinst es zu wissen«, sagte Steinauge. »Sag es mir!«
    »Gib mir zuerst den Stein!« sagte der Falke, »dann erzähle ich dir so viel von deiner ruhmvollen Vergangenheit, wie du hören willst.«
    Steinauge schien das ein verlockendes Angebot zu sein. Er nahm den Stein aus dem Beutel, hielt ihn aber fest in der geschlossenen Hand, damit der Falke ihn nicht unversehens packen konnte. Er sah zwischen seinen Fingern die Farbenringe im Licht der tiefstehenden Sonne aufblühen, blau, violett und grün, aber dieses Grün war anders als das harte stechende Grün der Augen des Falken; es hatte den seidigen Schimmer einer Sommerwiese und flirrte wie junges Buchenlaub im Mai, durch das von hoch oben die Sonne scheint. Während er sich dem Spiel der Farben hingab, löste sich die Umklammerung der Angst, und er wußte jetzt, daß er diesen Stein nicht hergeben durfte um der unsicheren Auskunft eines gierigen Falken willen. »Eines weiß ich sicher«, sagte er. »Ich bin der Träger des Steins«; denn er erinnerte sich, daß Nadelzahn ihn so genannt hatte.
    Diese Worte brachten den

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