Stein und Flöte
flimmerten, und dann dieser Duft, der ihn einhüllte, während das herabfallende Haar dieser Frau für einen Augenblick sein Gesicht streifte, aber das Bild ließ sich nicht festhalten und verging wie Nebel. Der Duft jedoch war beständig und umgab ihn wie eine Umarmung, dieser süße Duft nach dem Harz der Bergzirben. War das vielleicht der Name, den er suchte? »Harz?« fragte er. »Heißt du Harz?« Aber seine Worte schienen den Duft davonzublasen, die Verzauberung wich, und es war nur ein totes Stück Holz, das er in der Hand hielt.
Für diesen Abend ließ er das Ratespiel sein. Er deckte die Glut ab und legte sich schlafen. Doch in seinen Träumen erschien ihm, übergroß und mächtig, das unbewegte, breitmäulige Gesicht und betrachtete ihn stumm mit seinem glatten braunen Auge, ein uraltes, in sich verknäultes Wesen, unstörbar in seiner Ruhe, aber durchaus nicht schläfrig, sondern wach und voller Weisheit.
Als Steinauge sich beim Erwachen dieses Traumbildes noch bewußt war, schien ihm, daß er einen Gefährten bei sich hatte, von dem noch einiges zu erwarten sein würde. Doch an diesem Morgen hatte er keine Zeit, das Ratespiel wieder aufzunehmen; wenn er den Winter über wieder seine Morgenmilch bekommen wollte, dann mußte er jetzt anfangen, Futter für seine Ziegen zusammenzutragen; denn mit dem Heu allein würde er die Herde nicht satt bekommen.
Es wird nicht notwendig sein, hier im einzelnen aufzuzählen, was er in den nächsten Wochen alles in seine Höhle schleppte und hinter seinem Schlafplatz aufhäufte. Der Hinweis mag genügen, daß die Bucheckern in diesem Jahr nahezu ausgeblieben waren. Dafür war die Haselnußernte reichlich – zum Glück, denn das war das einzige von all den Sachen, was er selber essen mochte. Für die Ziegen sammelte er zudem Berge von Eicheln, und schließlich entdeckte er auch noch ein paar Holzapfelbäume, deren Zweige schwer von Früchten bis zum Boden herabhingen. Am Abend ließ er sich müde und steif von all dem vielen Bücken auf seine Streu fallen und schlief tief und traumlos. Seinen Stock gebrauchte er allenfalls, um Äpfel von den höheren Ästen zu schlagen.
Die Herde sah er hin und wieder auf den Grasplätzen weiter unten am Rande des Hochwaldes weiden, aber er wich ihr aus, um dem Bock nicht ins Gehege zu kommen. Die Tiere hielten sich überdies von der Felswand und damit vom Eingang der Höhle fern; der Schrecken des Felssturzes steckte ihnen wohl noch in den Gliedern. Zuweilen, wenn ihm der böckische Dunst unversehens in die Nase stieg, blieb Steinauge im Schutz des Gebüsches stehen und spähte hinaus auf die Wiese, wo Einhorn eine der Ziegen vor sich hertrieb. Er erinnerte sich der Winternächte, in denen er zwischen den sanft atmenden Leibern der Tiere gelegen hatte, als sei auch er selbst ein Teil dieses lebendigen Organismus. Jetzt, während er sich als heimlicher Zuschauer verbarg, wurde ihm bewußt, daß er nicht zu dieser Herde gehörte; denn er war ausgeschlossen vom Rhythmus ihres Lebens, der ihnen zum herbstlichen Zeitpunkt die Paarung befahl. Auch wenn er noch immer nicht wußte, wer er eigentlich war, so hatte er auf seiner Wanderung übers Gebirge und in das flache Tal doch eines begriffen: er war in Geschehnisse verstrickt, die nichts mit diesen Ziegen zu tun hatten.
Wenn er eine Zeitlang so gestanden hatte, trottete er weiter durchs Unterholz, klaubte hie und da ein paar Pfifferlinge aus dem Moos oder las eine Handvoll Nüsse aus dem welken Laub am Boden, ein einsamer Waldgänger, der kein anderes Ziel kannte, als für den Winter vorzusorgen. Der schwere, bittere Geruch des Herbstes hing zwischen den silbrigen Buchenstämmen und verlieh den Nebelschwaden, die am Morgen immer häufiger über den Wiesen waberten, den Geschmack von verrottetem Laub und moderndem Pilzgeflecht.
An einem Tag im späten Herbst setzte sich die Sonne noch einmal durch. Über dem kahlen Geäst der Bäume stand der Himmel wie ein blaugrüner Glassturz, blankgefegt von einem scharfen Ostwind, der schon am Morgen den Nebel davongeblasen hatte. Steinauge nahm sich jetzt Zeit. Er hatte genügend Vorräte eingebracht, schlenderte ziellos durch den Wald, versuchte die Vögel zu belauschen, ohne dabei sonderlich Neues zu erfahren, und suchte sich um die Mittagszeit schließlich einen geschützten Platz am Waldrand unter einer mächtigen Eiche. Er hockte sich ins Moos, lehnte seinen Rücken gegen die schrundige Rinde, kaute auf ein paar Haselnüssen herum und ließ sich
Weitere Kostenlose Bücher