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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Geschehens; er spürte, wie seine hufbewehrten Beine unter ihm zitterten, während eine Woge des scharfen Dunstes heranbrandete. Dann ließ der Bock von der Ziege ab, die sogleich zu der Herde zurücktrottete, offenbar ziemlich unberührt von dem, was ihr eben widerfahren war.
    Jetzt hielt Steinauge den Zeitpunkt für gekommen, sich dem derzeitigen Herrn der Herde zu zeigen. Er trat zwischen den Stauden hervor und sagte: »Ich freue mich, dich bei so strotzender Gesundheit anzutreffen, Einhorn.«
    Der Bock warf den Kopf herum, als habe er unversehens einen Feind gewittert, und senkte drohend sein gewaltiges Horn. Dann erst erkannte er seinen Mitregenten und lockerte ein wenig seine angriffsbereite Haltung, aber seine Stimme klang alles andere als freundlich, als er sagte: »Du bist früh zurückgekommen, Steinauge.«
    »Zu früh, meinst du wohl«, sagte Steinauge, ein wenig verstimmt über diesen abweisenden Empfang.
    »Wenn du es schon so verstehst, will ich dir nicht widersprechen«, sagte Einhorn mürrisch. »Einstweilen bin ich noch Bocks genug, um allein für meine Herde zu sorgen.«
    »Das habe ich gesehen«, sagte Steinauge lachend, doch der Bock hatte keinen Sinn für Späße dieser Art.
    »Willst du mich etwa verspotten?« sagte er böse und senkte wieder sein Horn.
    »Nichts liegt mir ferner«, beeilte sich Steinauge zu beteuern, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich bewundere dich«, und er fragte sich, ob dies nicht tatsächlich der Wahrheit entsprach.
    »Dann halte dich noch eine Weile fern von der Herde«, sagte der Bock. »In deiner Höhle kannst du meinetwegen schlafen. Wir bleiben über Nacht im Freien, so lange es noch warm genug ist.«
    »Wie freundlich von dir«, sagte Steinauge, doch als er merkte, daß der Bock nicht das geringste Verständnis für Ironie zeigte, zuckte er mit den Schultern und sagte nur noch: »Ich will mich daran halten«, drehte sich um und ging weiter durchs Gebüsch zum Schlupfloch.
    Er fand die Höhle ziemlich verwahrlost vor. Der Wind hatte Blätter und allerlei Unrat hineingeblasen, Spinnen huschten über den Boden und weiter hinten auf seinem Schlafplatz schimmelte die alte Laubstreu und roch dumpf nach Schwämmen. Aber das im Frühjahr eingebrachte Heu im Hintergrund der Höhle war trocken geblieben und duftete süß. Steinauge hatte den Rest des Tages damit zu tun, den felsigen Boden mit einem Reisigbesen zu fegen, das Wasserbecken zu säubern und sich ein frisches Lager aus dürrem Laub aufzuschütten.
    Als er am Abend schließlich an seinem Feuer saß und der Duft des gebratenen Kaninchens ihm in die Nase stieg, fühlte er sich schon wieder zu Hause. Er aß langsam und bedächtig, denn dergleichen Abendessen würde er in der kommenden Zeit entbehren müssen. Danach blieb er noch eine Zeitlang neben der Glut sitzen und betrachtete den Stock, den ihm der Alte geschnitzt hatte. Er drehte ihn in der Hand und verfolgte das Spiel von Licht und Schatten auf dem breitflächigen Gesicht, dessen dunkles Auge ihn gleichmütig anzublicken schien. »Was soll ich nun mit dir anfangen, du stummer Geselle?« sagte er. »Hast du überhaupt einen Namen?«
    Als er das sagte, schien es ihm, als schaue das hölzerne Auge ihn mit erwachendem Interesse an, ja ihm war, als habe ihm dies knorrige Wesen ermutigend zugenickt.
    »Ach, so ist das?« sagte er. »Ich soll wohl raten, wie du heißt?«
    Antwort erhielt er keine, aber jetzt war er fast sicher, daß der Stab in seiner Hand gezuckt hatte. Ob das nun eine Täuschung sein mochte oder nicht – jedenfalls überkam ihn die Lust, dieses Spiel zu spielen, und so fing er an, sich Namen für diesen sonderbaren Stock auszudenken. »Knorz?« sagte er und schaute gespannt in das hölzerne Gesicht. Doch das verzog keine Miene. »Dann vielleicht Wurz?« Auch das schien nicht das richtige zu sein. Steinauge begann darüber nachzudenken, ob ihm der Alte irgendeinen Hinweis gegeben haben könnte. Zum Abschied hatte er einen Vers geraunt:
    »Dem Duft des Lebendigen
    folge nun ständig …«
    Steinauge beugte sich über das knorrige Ende des Stocks und spürte sogleich, wie der süße, harzige Duft aus dem Holz aufstieg, ein zauberischer Wohlgeruch, sanft und erregend, fremd und doch auf eine unerklärliche Art vertraut, ein Duft, der Bilder entschwundener Träume weckte, das Abbild eines Gesichts, das sich im Dunkel über ihn geneigt hatte, während seitwärts das Plätschern einer Quelle die Nacht aufhellte, Augen, in deren Blick die Sterne

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