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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Haut herausschäle.« Und dann setzte er sein Messer mit einer Vorsicht an, als bestünde die Gefahr, er könne in lebendiges Fleisch hineinschneiden.
    Zunächst konnte Steinauge nicht erkennen, was unter den Händen des Alten aus dem unförmigen Knorren entstand. Offenbar lief der Stab in eine knollig gekrümmte Wurzel aus, an der nur die Rinde abgesengt worden war. Der Alte schnitt sorgsam einige Brandnarben aus, schabte noch ein bißchen an dem Holz herum und wischte die Oberfläche mit einem Tuch, das er aus der Tasche zog, sauber und glatt. Dann betrachtete er zufrieden sein Werk und hielt es Steinauge hin. »Da hast du ihn«, sagte er. »Versuch dich mit ihm anzufreunden.«
    Steinauge nahm den Stab, der sich sogleich warm und anschmiegsam in seine Hand fügte, und betrachtete das in sich verschlungene Gebilde, dessen absonderliche Krümmung von der streifigen Maserung nachgezeichnet wurde. Das erste, was seinen Blick fesselte, war ein dunkler, scharf umgrenzter und leicht aus der seidenglatten Oberfläche herausgehobener Stumpf, an dem wohl vor dem Brand eine Verästelung des Wurzelstocks abgezweigt hatte, ein glattes, braunes Auge, das ihn aufmerksam und ein wenig spöttisch anzuschauen schien, und sobald er dieses Auge erkannt hatte, löste sich auch der Kopf dieses merkwürdigen Wesens aus dem Geschlinge, ein breit vorgeschobenes Maul, in der Form etwa zwischen einem Entenschnabel und der kuppelartig gewölbten Schnauze einer Kröte, das ohne merkliche Begrenzung in das gerundete Haupt überging, in dessen Mitte das Auge ruhte, ein Gesicht von grotesk verzerrter Gestalt, das dennoch den Ausdruck unstörbarer Gelassenheit zeigte, die allenfalls ein wenig durchbrochen wurde von einem kaum merklichen Zug der Ironie im Winkel der fest geschlossenen, breit geschwungenen Lippen. Und dieser ohne Zweifel charaktervolle Kopf, unter dessen Blick Steinauge fast so etwas wie Hochachtung, ja Ehrfurcht überkam, saß auf einem wie zu meditativer Ruhe eingerollten Leib, der um das obere Ende des Stabs geschlungen war.
    »Riech einmal an dem knorrigen Burschen«, sagte der Alte, »hinten am Kopf ist eine harzige Stelle, dort spürst du es am stärksten«, und während Steinauge den Kopf beugte und den süßen harzigen Zirbenduft einatmete, raunte der Alte:
    Dem Duft des Lebendigen
    folge nun ständig,
    doch kannst du’s nicht bändigen,
    erstarrst du elendig.
    Folg nur dem Beständigen,
    so bleibst du lebendig.
    Steinauge vernahm diese Worte, obwohl sie so leise gesprochen wurden, als töne die raunende Stimme nur inwendig in seinem Kopf. Der Duft drang in ihn ein, süß und herb zugleich, und weckte in ihm eine unbändige Sehnsucht nach Leben, nach Mitteilen und Empfangen, und ihm war zumute, als müsse sein Leib bersten vor ungestillter Lust, dieses Leben, wie immer es sich auch darbieten mochte, zu empfinden und auszukosten. Er hätte alle Welt umarmen können in diesem Augenblick, und er war drauf und dran, mit diesem sonderbaren alten Steinsucher den Anfang zu machen, doch als er den Kopf hob und aufblickte, war der Alte verschwunden. Weit unten zwischen den niedergekrümmten Latschenkiefern meinte er, noch eine flüchtige Bewegung zu erkennen, aber dann lag der dunkel übergrünte Hang wieder reglos unter dem weit ausgespannten Himmel. Und erst in diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß er ohne Angst unter dem offenen Himmel stand – oder besser: gestanden hatte; denn einen Herzschlag später packte sie ihn mit solcher Gewalt, daß er mit wenigen Sätzen auf das bergende Gebüsch zusprang und sich – schon fast besinnungslos – zwischen die nadeligen Zweige der Latschen warf. Hier blieb er erst einmal liegen, und sein Herz klopfte so heftig, als sei er eben einer großen Gefahr entronnen, deren Ursache er doch nicht kannte. Als er wieder klar denken konnte, fragte er sich, wieso er frei von Angst unter dem blanken Himmel hatte stehen können. War er dermaßen gefesselt gewesen von dem geheimnisvollen Schnitzwerk des Alten? Oder hatte einfach nur dessen Anwesenheit seine Angst ferngehalten? Die erste Erklärung erschien ihm zwar vernünftiger, dennoch war er nahezu sicher, daß die zweite zutraf, ohne daß er hätte sagen können, worauf sich diese Meinung gründete.
    »Und ich dachte schon, der alte Mann hätte dich von deiner sonderbaren Vorliebe für schattige Plätze geheilt«, sagte das Wiesel, das ihm inzwischen, wenn auch nicht so überstürzt, gefolgt war und ihn jetzt ein wenig irritiert von der Seite

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