Stein und Flöte
wirkte die Miene des stummen Gesellen fast schon angewidert. Für diese Art von Späßen hatte er offenbar keinen Sinn. »Entschuldige, wenn ich dich beleidigt haben sollte«, sagte Steinauge, »aber du siehst ja, wie schwer es ist, den richtigen Namen für dich zu finden. Heute fällt mir bestimmt nichts besseres mehr ein.«
Er legte den Stock beiseite, stocherte ein bißchen in seinem Feuer herum und dachte über sein Gespräch mit dem Falken nach. Das konnte kein gewöhnlicher Falke gewesen sein, denn er hatte gesagt, daß er über andere herrsche, und damit hatte er wohl nicht nur Falken gemeint. Außerdem mußte er mit diesem Falken schon früher zu tun gehabt haben. Zumindest hatte der Falke behauptet, etwas über seine Vergangenheit zu wissen, und zwar über eine Zeit, in der man ihn ›Träger des Steins‹ genannt hatte. Steinauge gab sich alle Mühe, irgend etwas aus seiner Erinnerung zutage zu fördern, und dabei wurde er immer sicherer, diesen Vogel schon einmal inmitten einer Wiese auf einem Baumstrunk sitzen gesehen zu haben. Er entsann sich jetzt, daß dies nicht an einem Abhang wie heute gewesen sein konnte; denn in seiner Vorstellung entstand das Bild einer flachen, grasüberwachsenen Lichtung, umgeben von schmalstämmigem Jungwald, und der Falke hatte außerdem näher vor ihm gesessen. Und dann begann das Bild in seiner Vorstellung in Bewegung zu geraten, Stück für Stück fiel das braune Federkleid des Falken ab und enthüllte, während die Gestalt zugleich wuchs, den schlanken, weißgliedrigen Körper eines Mädchens, das ihn aus grünen Augen anblickte. Falkenmädchen, dachte er und wußte zugleich, daß auch dieser Name zu seiner Vergangenheit gehörte. Also hast du mir doch etwas über mich verraten, Falke, dachte er, doch da waren die grünen Augen plötzlich dicht vor ihm, und wieder überfiel ihn diese Angst; denn er erkannte auf dem Grund dieser schönen Augen die Gier nach Macht, und er zitterte, als habe er diese Macht schon zu spüren bekommen. Erst als er die Hand auf die Brust legte und sich seines Steins versicherte, wurde sein Atem wieder ruhiger, und die Angst wich.
Es regnete den ganzen Tag lang in Strömen, und gegen Abend hörte Steinauge das Getrappel der Ziegen vor der Höhle. Als erster streckte der Bock sein gewaltiges Horn in den Eingang und blickte sich um. Als er Steinauge am Feuer sitzen sah, schüttelte er seinen nassen Bart und sagte: »Scheußliches Wetter! Kein trockenes Plätzchen zu finden. Wir schlafen heute nacht in der Höhle.« Eine Einladung wartete er gar nicht erst ab, sondern zwängte sich durch das Schlupfloch, und nach ihm folgte Stück für Stück die ganze Herde.
»Wärmt euch erst einmal auf«, sagte Steinauge, und gleich darauf lagen die Tiere leise schniefend rings um die Feuerstelle, bis ihre durchnäßten Felle dampften. Nur die Jungtiere, denen weder die Höhle noch das Feuer vertraut waren, hielten sich beiseite und traten ängstlich meckernd von einem Bein auf das andere, bis die Muttertiere ihnen gütlich zuredeten und sie mit der Nase an die wärmende Glut stupsten.
An diesem Abend molk Steinauge zum ersten Mal wieder seine Schale voll Milch, doch zum Schlafen stieg er hinauf zu seinem Lager. Seither kamen die Ziegen täglich bei Einbruch der Dunkelheit in die Höhle, und Steinauge war’s zufrieden, in der Nacht das ruhige Atmen der Tiere zu hören und den warmen Dunst ihrer Leiber zu spüren. Bald fiel dann auch der erste Schnee, und an diesem Tage sagte Einhorn: »Von heute an sollst du den Winter über wieder Herr über die Herde sein. Ich sehe ja, daß du gut vorgesorgt hast.« Und dann mampfte er genüßlich eine Handvoll von dem Heu, für dessen Ernte er im Frühjahr so wenig Verständnis gezeigt hatte.
Die Tage bekamen nun wieder ein ruhiges Gleichmaß, und nach einiger Zeit hatte Steinauge das Gefühl, sein Leben lang nichts anderes getan zu haben als am Morgen seine Ziegen zu einem schneefreien Futterplatz zu treiben, am Abend wieder zur Höhle zu bringen, noch ein bißchen von seinen Vorräten zuzufüttern und zu melken.
Als er eines Abends am Feuer saß und wieder einmal seinen Stock hin und her wendete, sagte Einhorn: »Was hast du da für ein sonderbares Ding von deiner Reise mitgebracht? Du schaust es immer an, als wolltest du mit ihm reden.«
»Das möchte ich auch«, sagte Steinauge, »aber ich kenne seinen Namen nicht.«
»Du bist doch sonst so klug«, sagte Einhorn. »Suche einen Namen, der seiner Art entspricht. So
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