Stein und Flöte
wird das wenigstens bei uns gemacht.«
Wegen seiner Einfachheit leuchtete Steinauge dieser Vorschlag ein. Als die Tiere schliefen und er oben auf seiner Laubstreu lag, nahm er den Stock zur Hand und sagte: »Du bist aus Holz, das ist deine Art. Bist du vielleicht ein Holzling?«
Der Stock gab keine Antwort, aber Steinauge spürte ein leichtes Zucken im Schaft, das ihn ermutigte, diese Spur weiter zu verfolgen. »Das Holz stammt von einem Baum«, fuhr er fort, »also bist du von der Art der Bäume. Bist du ein Bäumler?«
Im schwachen Licht der Glut, das vom Feuerplatz noch heraufdrang, meinte er zu sehen, wie das Auge im breiten Gesicht des stummen Gesellen plötzlich aufblitzte und ihn aufmerksam anschaute, als wolle er sagen: Mach weiter so, du bist schon nahe dran! »Du stammst von einem ganz bestimmten Baum«, sagte Steinauge also. »Es war eine uralte Bergzirbe. Bist du vielleicht ein Zirbel?«
»Um das herauszukriegen, hast du ziemlich viel herumraten müssen«, sagte der Zirbel. »Besonders findig bist du nicht. Aber da es der Alte für wert hielt, mich dir als Gefährten beizugeben, wird er schon etwas mit dir im Sinn haben.«
»Das hört sich ja fast so an, als sei mir damit eine große Gnade erwiesen worden«, sagte Steinauge. »Als besonders nützlich hast du dich bislang nicht erwiesen.«
»Was erwartest du in so kurzer Zeit?« sagte der Zirbel ungehalten. »Der Alte hat dir allerdings nicht deshalb einen Zirbel mitgegeben, damit du ihn benutzt, um Holzäpfel damit von den Bäumen zu schlagen. Dazu reicht auch ein gewöhnlicher Prügel aus.«
»Das hätte er mir ja sagen können«, erwiderte Steinauge widerborstig. »Er hatte mir schließlich einen Gefährten versprochen, mit dem ich mich den Winter über unterhalten kann, aber die ganze lange Zeit seither hast du nicht einmal den Mund aufgemacht.«
»Zirbel reden nur, wenn man sie beim Namen nennt«, sagte der Zirbel. »Und was heißt hier schon ›lange Zeit‹? Du mußt sehr jung und sehr ungeduldig sein, wenn du das für eine nennenswerte Zeit hältst.«
»Ich bin immer noch beträchtlich älter als du«, sagte Steinauge. »Der Alte hat dich ja vor meinen Augen gemacht.«
Diese Behauptung brachte den Zirbel zu einem trockenen, ein bißchen hölzern klingenden Lachen. »Vor deinen Augen?« sagte er dann. »Weißt du überhaupt, wie alt ich bin? Ich will’s dir sagen, damit du ein bißchen mehr Respekt vor mir bekommst: In diesem Frühjahr bin ich 369 Jahre alt geworden, und das ist genau das Alter, in dem ein Zirbel unter die Leute geschickt werden kann. Was du eine lange Zeit nennst, ist für mich kaum ein Augenblick.«
Steinauge konnte das nicht glauben. »Ich habe doch gesehen«, sagte er, »wie der Alte ein Stück Holz aufhob …«, doch der Zirbel fiel ihm ins Wort und sagte: »Gesehen, gesehen! Nichts hast du begriffen! Dieses Stück Holz war der Kern dieser Bergzirbe, die vor deinen Augen vom Blitz getroffen wurde. Was da verbrannt ist, war nur die äußere Gestalt, auf die es gar nicht ankommt. Aber der Zirbel, der dabei frei wurde, ist noch lebendig genug, um hier einem jungen Naseweis beizubringen, was Zeit ist. Wer weiß, vielleicht wurde dieser Blitz nur deshalb geschickt, weil gerade ein Zirbel gebraucht wurde, und du solltest wirklich etwas dankbarer sein, daß um deinetwillen solch gewaltige Veranstaltungen in Gang gesetzt wurden. Und rede nicht mehr von Zeit! Ich mußte 369 Jahre dort oben auf dem Joch stehen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was dieses Wort bedeutet.«
Nach dieser langen Rede des Zirbel wurde Steinauge nun doch ziemlich kleinlaut. »Entschuldige bitte«, sagte er. »Das konnte ich nicht wissen. Der Alte hat mir nichts davon gesagt.«
»Wahrscheinlich hat er dich für klüger gehalten, als du bist«, sagte der Zirbel. »Muß dir denn immer alles erst gesagt werden? Jemand wie dieser Alte tut nichts nur so von ungefähr. Es sollte dich schon nachdenklich machen, daß er sich überhaupt um deine Angelegenheiten kümmert. Aber für heute habe ich genug geredet.« Damit beendete der Zirbel das Gespräch und überließ es nun Steinauge, sich einen Reim auf das alles zu machen.
Da hatte der alte Steinsucher ihm also einen Gefährten mitgegeben, der sich mit den Geheimnissen der Zeit auskannte, wenn auch auf eine für Steinauges Verhältnisse ziemlich weiträumige Weise. Bei diesem Gedanken wurde ihm bewußt, daß er tatsächlich recht unvollkommene Vorstellung von Zeitabläufen hatte; denn die Erfahrung,
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