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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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folgen, doch schon nach wenigen Schritten erkannte er die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens. Während er sich hier unten in dem tiefen Schnee abmühte, würden die Krähen oben über den Wipfeln längst sonstwohin geflogen sein. Er kehrte zu dem umgestürzten Baum zurück, begann handliche Äste aus dem Gewirr von zersplittertem Holz herauszuzerren und bedachte bei dieser Arbeit, was er eben gehört hatte. Ihm war zumute gewesen, als würde der Nebelschleier, der über seiner Erinnerung lag, unvermutet an einzelnen Stellen aufgerissen, und dahinter waren Bilder aufgetaucht, die er nicht wie etwas Fremdes betrachtete, sondern als etwas Vertrautes wiedererkannte, Blockhäuser am Waldrand, eine altersgraue Hütte, die inmitten der Ansiedlung stand wie ein Heiligtum, und er wußte, daß er dort schon gewesen war. Er hatte Namen gehört, die eine Vorstellung von Gesichtern, von Menschen weckten, die er kannte: Arnis Leute, das waren flachnasige Männer mit olivbrauner Haut und strähnigem schwarzen Haar; er sah sie geschäftig zwischen den Häusern hin- und herlaufen und beladene Packtiere hinter sich herziehen. Und Narzia, das war das Gesicht einer Frau oder eines Mädchens, schmal und hellhäutig mit grünen Augen, ein schönes Gesicht, das ihn zugleich erregte und ängstigte. Aber was war dort geschehen, daß er von diesem Ort geflohen war und den Stein mit sich genommen hatte, den er auf der Brust trug? Er spürte unter der dünnen Haut, die ihn von dieser Erinnerung trennte, ein Entsetzen aufsteigen, das ihn daran hinderte, weiter in dieser Richtung vorzudringen, aber er wußte jetzt, wer der Falke war, mit dem er im Spätherbst gesprochen hatte.
    Inzwischen hatte er ein Bündel von dürren Ästen zusammengebracht und machte sich auf den Weg zur Höhle. Er ging an diesem Tag noch mehrmals zu dieser Stelle, bis er einen hinreichenden Vorrat von Brennholz aufgestapelt hatte, aber die Krähen konnte er nicht mehr entdecken. Die Ziegen hatten sich mittlerweile auf dem Hang verstreut und knabberten an den Zweigen der Büsche, aber zum Sattwerden war das nicht, was sie dabei zwischen die Zähne bekamen. Als es dunkel wurde, kehrten sie in der Erwartung auf kräftigere Nahrung von selbst in die Höhle zurück. Schlafen konnte er jedoch nicht, denn er war immer noch zu stark erregt von dem Vorstoß ins Vergessene, der ihm an diesem Tag geglückt war.
    Nachdem er eine Zeitlang so gelegen und zur zerklüfteten Höhlendecke hinaufgestarrt hatte, über die der Widerschein des flackernden Feuers huschte, nahm er den Stab zur Hand und sagte: »Zirbel, du bist doch einer, der über die Zeit Bescheid weiß.«
    Statt einer Antwort ließ der Zirbel erst einmal sein trockenes Lachen hören. Dann sagte er: »So etwas kann nur einer sagen, der keine Ahnung hat, was Zeit ist. Zeit ist etwas, das man um so weniger begreift, je mehr man davon erfährt. Man kann ihrer nie sicher sein. Achtet man auf die Zeit, so schleicht sie dahin wie eine Schnecke, aber sobald man sich von etwas anderem ablenken läßt, springt sie davon wie ein Wiesel. Sie ist immer da, aber wenn du sie packen willst, greifst du ins Leere, denn sie ist schon wieder vergangen. Gut, ich habe ein bißchen Erfahrung mit der Zeit gemacht, aber ich weiß auf keine Art über sie Bescheid. Worauf willst du hinaus? Ich habe schon gemerkt, daß dich etwas nicht einschlafen läßt.«
    »Ich habe heute ein paar Stücke meiner verlorenen Zeit wiedergefunden«, sagte Steinauge und erzählte dem Zirbel, was er von den Krähen erlauscht hatte. »Aber das sind alles nur einzelne Bilder«, sagte er schließlich, »ich kenne ihren Zusammenhang nicht.«
    »Und ich soll dir jetzt helfen, diesen Zusammenhang herzustellen?« sagte der Zirbel. »Das mußt du schon selber versuchen. Meine Zeit ist eine andere als deine Zeit.«
    »Hast du nie ein Stück davon verloren?« fragte Steinauge.
    Der Zirbel dachte eine Zeitlang nach und sagte dann: »Das ist mir wirklich einmal passiert. Es muß ungefähr 250 Jahre her sein. Damals war ein dermaßen trockener Sommer, daß meine Zapfen vor der Zeit verdorrten und taub blieben, so daß ich keine Kinder in die Welt setzen konnte, und das ist eine traurige Sache für unsereinen. Im Spätsommer gab es dann genauso ein wüstes Gewitter wie an dem Tag, an dem wir einander begegnet sind, und auch damals traf mich ein Blitz. Er fuhr vom Wipfel bis zu den Wurzeln am Stamm entlang, daß an dieser Seite die Rinde abplatzte, nur kam der Regen, ehe ich in Brand

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