Stein und Flöte
über die er derzeit verfügte, reichte nicht sehr viel weiter als ein Jahr zurück. Der Rest war ihm abhanden gekommen, und wenn er diesen Teil seines Lebens wiederfinden wollte, konnte es recht nützlich sein, jemanden wie diesen Zirbel bei sich zu haben. Er beschloß, seinen Gefährten bei nächster Gelegenheit zu befragen, auf welche Weise er die verlorengegangene Zeit zurückgewinnen könne, und darüber schlief er ein.
Einstweilen schien die Zeit stillzustehen. Draußen fiel der Schnee, und die kalte, weiße Mauer vor dem Einschlupf wurde täglich ein Stück höher. Die Ziegen fanden auf den tief verschneiten Hängen kaum noch Futter, rauften mit gebleckten Zähnen Knospen und Rinde von herabhängenden Zweigen und verließen an manchen Tagen überhaupt nicht mehr die Höhle. Dann ging das Brennholz zur Neige, und Steinauge mußte am Morgen auf die Suche nach dürren Ästen gehen. Er wußte von einer uralten, morschen Buche am Waldrand, die zur Zeit der Herbststürme zusammengebrochen war, und dort wollte er sich nun einen neuen Vorrat besorgen.
Als er vor die Höhle trat, sah er über dem Wald einen Schwarm Krähen kreisen, und während er zwischen den Büschen knietief durch den Schnee stapfte, hörte er ständig die heiseren Schreie der schwarzen Vögel. Dann erkannte er, was sie in solche Aufregung versetzte: Dicht über ihnen schoß ein Falke dahin, der offenbar auf Beute aus war. Aber wenn er gemeint haben sollte, mit den Krähen leichtes Spiel zu haben, dann hatte er sich getäuscht. Sie schlossen sich plötzlich zu einem dichten Pulk zusammen und griffen ihrerseits den Falken an, der sich nur mit knapper Not aus der Reichweite ihrer spitzen Schnäbel retten konnte. Er schwang sich mit hastigen Flügelschlägen in den blaßblauen Frosthimmel und glitt dann rasch nach Süden davon.
Steinauge erreichte schließlich den umgestürzten Baum und begann armstarke Äste aus der zerschmetterten Krone zu brechen. Die Krähen hatten sich inzwischen im kahlen Geäst des Hochwaldes niedergelassen und hockten dort wie überständige Früchte, die der Frost geschwärzt hat. Zwei von ihnen saßen unmittelbar über Steinauge in den Zweigen einer Eiche, und er begann zu verstehen, was sie einander zukreischten.
»Gräßlich, dieser freche Greifer!« krächzte die eine. »Hast du je einen derart unverschämten Falken gesehen?«
»Kennst du Grünauge nicht?« sagte die andere. »Die ist gieriger als jeder andere!«
»Ich hab von ihr krächzen hören«, sagte die erste. »Das war aber weiter im Süden.«
»Jetzt jagt sie meist hier bei der großen Felswand«, sagte die andere. »Doch du hast recht. Sie nistet bei Arnis Hütten. Ich habe selbst gesehen, wie sie aus dem Fenster von Narzias Haus flog.«
»Hält Narzia sich einen Jagdfalken?« fragte die erste. »Und warum läßt sie ihn frei fliegen?«
»Das ist nicht so sicher, daß es ihr Jagdfalke ist«, sagte die andere. »Manche behaupten, es sei Narzia selbst; denn sie hat die gleichen grünen Augen wie der Greifer, gierig und grausam.«
»Darin ist sie ihm jedenfalls ähnlich«, sagte die erste. »Seit ihr Vater gestorben ist, soll ihre Bosheit keine Grenzen kennen. Arnis Leute hält sie wie Knechte, und wer vor ihr nicht kriecht, dem bricht sie mit bösem Zauber den Willen. Kennst du ihre Hunde? Ihr strähniges Fell gleicht den Haaren von Arnis Leuten, und ihre Augen erinnern mich an Menschen, die nicht mehr da sind. Bei Arnis Hütten riecht es nach Angst.«
»Ja«, sagte die andere, »dieser Gestank breitet sich dort aus, seit das schimmernde Auge aus der grauen Hütte verschwunden ist und mit ihm der Träger des Steins. Ich habe gehört, daß Narzia in Gestalt des Falken ausfliegt, um ihn zu suchen und ihm den Stein wieder abzujagen.«
»Er sollte sich vor ihr hüten«, sagte die erste, »sonst macht sie ihn noch zu einem ihrer Hunde.«
»Vielleicht hat sie das schon getan«, sagte die andere.
»Das glaube ich nicht«, sagte die erste, »diese Hunde sind nicht fähig davonzulaufen, denn sie hat ihren Willen gebrochen. Kann sein, daß dieser Junge mit dem Stein nach Hause gegangen ist. Er war keiner von Arnis Leuten.«
»Weißt du, woher er stammt und wie er heißt?« fragte die andere.
»Ja«, sagte die erste, und in diesem Augenblick brach krachend ein dürrer Ast unter Steinauges Hufen. Die Krähen flogen erschreckt auf und strichen über die Wipfel der Bäume außer Sicht.
Steinauge verwünschte seine Ungeschicklichkeit. Er versuchte den Vögeln zu
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