Stein und Flöte
aber nach seiner verlorenen Zeit fragte er nicht mehr, wenn er sich auch vornahm, künftig genauer auf Kleinigkeiten zu achten und auf Wörter, die ihm auf irgendeine Weise zu Ohren kamen.
Eines Tages begann dann der Schnee zu schmelzen. Die Tropfenschnüre, die über den Eingang der Höhle bei Tag wie ein funkelnder Vorhang aus blitzenden Edelsteinen herabrannen, froren zwar über Nacht zu einem zackigen Gebiß von Eiszapfen, doch sobald die Sonne am Himmel stand, troff das Wasser an ihnen herab und fraß sie rasch auf. Als draußen apere Weideplätze zu finden waren, verließen die Ziegen die Höhle, um sich Futter zu suchen. Eine Zeitlang kehrten sie abends noch in die Höhle zurück, um sich nachts am Feuer zu wärmen, doch bald blieben sie ganz aus. Nur Einhorn zeigte sich noch einmal, nickte Steinauge gönnerhaft zu und sagte: »Den Winter über warst du ganz brauchbar, aber jetzt ist es an der Zeit, daß ich die Herrschaft über die Herde wieder selbst übernehme. Ich muß meinen Tieren ein bißchen Bewegung verschaffen, ehe sie ihre Jungen werfen. Wenn du einstweilen noch nichts anderes zu essen findest, dann kannst du uns ja suchen, um Milch zu trinken wie ein säugendes Jungtier.«
Diese letzte Bemerkung fand Steinauge nicht besonders achtungsvoll, denn er meinte, sich einen etwas deutlicher ausgesprochenen Dank verdient zu haben für all die Arbeit, die er um der Ziegen willen auf sich genommen hatte. Aber da er fürs erste noch auf die Milch der Ziegen angewiesen war, bedankte er sich seinerseits für das Angebot und hatte die Höhle wieder für sich allein. Bis er Heu einbringen konnte, um damit im nächsten Winter seine Milch zu verdienen, würde er noch eine Zeitlang bleiben müssen.
In den Nächten nach dem Auszug der Ziegen fühlte er sich ziemlich verlassen. Ihm fehlte der warme Dunst der Herde, das leise Schnaufen der ruhenden Tiere, und er ließ in der ersten Zeit das Feuer höher brennen, damit er beim Einschlafen etwas Lebendiges spürte. Von Tag zu Tag wurde er unruhiger, als triebe ihn etwas an, wieder auf Wanderschaft zu gehen, und wenn er am Abend nach der Herde suchte, prüfte er im Vorübergehen das aufsprießende Gras, als könne er es dadurch zu rascherem Wachstum veranlassen.
Und dann spürte er eines Nachts tatsächlich etwas Lebendiges und zwar dicht an seiner Kehle: So nahe bei sich hatte er dergleichen nun auch wieder nicht haben wollen. Er wurde durch ein schrilles Pfeifen aus dem Schlaf geschreckt, fühlte, wie etwas Kleines, Pelziges an seinem Hals zappelte, und wurde, als er mit einer Handbewegung den pelzigen Gast abzustreifen versuchte, zugleich auch noch von einem glatten, kalten Geringel berührt. Er setzte sich auf, und da er auch in dieser Nacht sein Feuer hinreichend mit Nahrung versorgt hatte, konnte er sehen, wer da auf Besuch gekommen war. Neben seinem Lager hatte sich eine Schlange zusammengerollt, deren schuppiger Körper im Schein der Flammen schimmerte, und diese Schlange hielt in den Fängen eine Maus gepackt, die elendiglich schrie und mit den Beinen zappelte.
»Kannst du nicht woanders auf Jagd gehen als ausgerechnet in meinem Bett?« sagte er, ärgerlich über die Störung seiner Nachtruhe. »Für diese kleine Maus hätten meine Nüsse auch noch gereicht.«
Als er das gesagt hatte, machte die Schlange keineswegs Anstalten, ihre Beute zu verschlingen; sie beugte vielmehr ihren Kopf zurück, bis sie das zeternde Tier mit einer Schleife ihres Körpers festhalten konnte, hob dann ihren schmalen Kopf und sagte mit einer weichen melodischen Stimme: »Verzeih mir, Träger des Steins, daß ich deinen Schlaf gestört habe. Mein Name ist Rinkulla, und ich bin eben im rechten Augenblick gekommen, um diese elende Maus dabei zu ertappen, wie sie dir etwas Besseres stehlen wollte als deine Nüsse.«
Steinauge erkannte jetzt an den hellen, mondförmigen Flecken über den Kiefern der Schlange, daß er mit einer Ringelnatter sprach, und obgleich er bisher wenig Neigung zu Schlangen verspürt hatte, so verfolgte er doch mit Bewunderung die anmutigen Bewegungen des Tieres und schaute in ihre Augen, unter deren spiegelnder Glätte in der Tiefe ein vielfältiges Farbenspiel aufstieg wie in einem Achat. »Was soll es hier für eine Maus besseres zu finden geben?« fragte er, aber der Name, mit dem die Schlange ihn angeredet hatte, ließ ihn bereits ahnen, worauf es die Maus abgesehen hatte.
»Für eine Maus wohl nicht«, sagte Rinkulla.
»Dann wohl für einen Falken?«
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