Stein und Flöte
geraten konnte. Von diesem Augenblick an bis zum nächsten Frühjahr stand ich wie betäubt, und auch später, als sich die Wunde schon wieder schloß, wußte ich lange nicht, was mit mir geschehen war.«
»Irgendwie mußt du es ja erfahren haben, sonst könntest du nicht davon erzählen«, sagte Steinauge. »Wie hast du deine verlorene Zeit schließlich wiedergefunden?«
»Durch eine Ameise«, sagte der Zirbel. »Das war schon ein paar Jahre später im Frühling. Damals war ich ziemlich melancholisch und ließ meine Zweige hängen. Ich sorgte mich um meine Zapfen, denn seit dieser Geschichte war es mir nie mehr gelungen, meine Nüsse ausreifen zu lassen. An diesem Tag nun kam diese Ameise an meinem Stamm heraufgekrabbelt bis zum Wipfel und fing an, von dem Harz zu naschen, das zwischen den Schuppen der Zapfen austrat. Und in diesem Augenblick wußte ich, daß schon einmal eine Ameise hier oben gewesen war. Auch diese hatte an meinen dürren Zapfen nach Harz gesucht und an den verdorrten Krusten herumgeknabbert. Dann war sie plötzlich in einen Spalt zwischen den Schuppen gekrochen, und da fuhr auch schon jener Blitz herab, der mir beinahe das Leben nahm. Jetzt, als ich mich erinnerte, spürte ich endlich wieder diesen brennenden Schmerz und die lohende Hitze, die den Saft unter meiner Rinde sieden ließ. Und dieser Schmerz brachte mir die verlorene Zeit zurück.«
»Soll ich also nach einem solchen Schmerz suchen?« fragte Steinauge, und man hätte ihm, wenn es nicht so dunkel in der Höhle gewesen wäre, dabei ansehen können, daß er dazu wenig Lust verspürte. Der Zirbel merkte es dennoch, vermutlich an der gedehnten Redeweise. »Nein, nein«, sagte er. »Wer tut schon so etwas, solange er bei gesundem Verstand ist? Suche lieber nach einer Ameise. Der Schmerz kommt dann schon von allein.«
»Was für eine Ameise?« fragte Steinauge verwirrt. »Ich kann mich an keine Ameise erinnern.«
»Du lieber Himmel! Bist du begriffsstutzig!« sagte der Zirbel. »Wozu erzähle ich dir denn diese Geschichte? Suche nach Kleinigkeiten, achte auf Wörter, die dich an etwas erinnern! Du hast mir doch gerade erzählt, was du von den Krähen gehört hast. Da war von irgendeiner Hütte die Rede. Erinnerst du dich an sie?«
»Arnis Hütte«, sagte Steinauge. »Und die Leute, die dort in den Blockhäusern leben, nennen sich Arnis Leute.«
»Bei denen mußt du früher gelebt haben,« sagte der Zirbel. »Du bist der Junge, der mit dem Stein davongelaufen ist.«
»Ich weiß, denn ich habe den Stein bei mir«, sagte Steinauge. »Aber wovor bin ich davongelaufen?«
»Woher soll ich das wissen?« sagte der Zirbel. »Vielleicht hat das mit dieser Narzia zu tun, die zeitweise als Falke hier durch diese Gegend zu fliegen scheint. Kennst du sie?«
»Mit diesem grünäugigen Falken habe ich im vergangenen Herbst gesprochen«, sagte Steinauge. »Wenn ich ihm diesen Stein gebe, wollte er mir sagen, wer ich bin. Beinahe hätte ich es getan.«
»Das wäre ein schlechter Handel gewesen«, sagte der Zirbel. »Du mußt selber herausfinden, wer du bist. Es nützt überhaupt nichts, wenn es dir jemand sagt. Diese Narzia scheint sich auf allerlei Künste zu verstehen. Vielleicht wollte sie dich zu einem ihrer Hunde machen.«
Steinauge hatte während dieses Gespräches gespürt, wie diese Angst tastend wieder nach seinem Herzen griff und es immer stärker zusammenpreßte. Bei den letzten Worten des Zirbel schien diese Faust jäh zuzupacken. »Laß das!« schrie er. »Sei jetzt still! Ich will davon nichts mehr hören.«
»Habe ich davon angefangen?« sagte der Zirbel. »Du bist es doch, der nach seiner verlorenen Zeit sucht. Aber jetzt scheint mir, daß du vor ihr davonläufst, weil du Angst vor ihr hast. Eines Tages wirst du deine Ameise schon finden. Wir haben ja Zeit, viel Zeit.«
Die hatten sie wirklich. Der Winter schleppte sich langsam dahin. Schneestürme verwehten zeitweise den Eingang der Höhle, so daß es Tag und Nacht dunkel blieb, aber diesmal kroch Steinauge nicht zu den Ziegen, sondern schlief weiterhin oben auf seiner Laubstreu. Vielleicht war es ihm peinlich, sich unter dem Auge des Zirbel mit den Ziegen auf solche Weise gemein zu machen, vielleicht hatten sich auch die Worte des Falken, er werde nie zu den Ziegen gehören, derart in seinem Bewußtsein festgesetzt, daß er fürchtete, die Tiere würden ihn nicht mehr in den wärmenden Organismus der Herde aufnehmen wie im letzten Winter. Hie und da sprach er mit dem Zirbel,
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