Stein und Flöte
durch den Winter! Im Frühling wirst du dann wieder lachen und mit mir durch die Wälder ziehen.«
»Meinst du denn, daß sich nie etwas ändert und alles immer so weitergeht, Jahr für Jahr?« sagte Steinauge.
Das Wiesel blickte ihn verständnislos an. »Was soll sich schon groß ändern?« sagte es. »Kaninchen und Birkhühner wird es wohl auch dann noch geben.«
»Und Falken«, sagte Steinauge.
»Einer von ihnen ist hinter dir her«, sagte das Wiesel. »Vergiß das nicht!«
»Wenn es nur das wäre«, sagte Steinauge, aber er dankte Nadelzahn für seine gute Meinung und auch für seine Freundschaftsdienste während dieses Sommers, und dann trabte er wieder allein am Fuß der Felswand entlang durchs Gebüsch, bis er zu seiner Höhle kam.
Zunächst sah es so aus, als solle hier tatsächlich alles immer so weitergehen. So schien es Steinauge jedenfalls, während er damit beschäftigt war, für den dritten Winter vorzusorgen. Er schleppte Körbe voll Nüsse, Holzäpfel, Bucheckern und Eicheln durchs Gebüsch und war sich dabei bewußt, daß er jeden dieser Trampelpfade schon einmal entlanggetrottet war und jeden dieser Handgriffe schon Tausende Male getan hatte, wenn er etwa Nüsse aus den welken Blättern herausklaubte und in seinen Korb warf. Er sah auch keinen Weg, wie er diesen Zustand hätte ändern können, und auch die Ziegen hatten sich wohl daran gewöhnt, daß er hier auftauchte, wenn das Laub sich färbte und der Herbststurm die Eicheln von den Bäumen warf. Er gehörte für sie schon zu den Ereignissen, die der Wechsel der Jahreszeiten mit sich brachte. Sie blickten kaum auf, wenn er am Waldrand stehenblieb und zur Herde hinüberblickte, die in dem schon gilbenden Gras weidete, so vertraut war ihnen sein Anblick.
Ihm jedoch erschienen sie fremder als je zuvor, auch wenn er die Belanglosigkeiten verstehen konnte, die ihre spärlichen Unterhaltungen ausmachten. Die Ziegen waren zufrieden mit dem Gleichmaß ihres Daseins zwischen Frühling und Winter, zählten die Jahre nicht wie er und hätten nie den Wunsch gehabt, daran etwas zu ändern. Auch als sie mit dem ersten Schneefall wieder die Höhle bezogen, taten sie das mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie hier von jeher ihr Winterquartier gehabt, und Einhorn begnügte sich an diesem Tag mit einem lässigen Kopfnicken, um seinem Partner anzuzeigen, daß nun die Reihe an ihm sei, für die Herde zu sorgen.
Steinauge spürte, wie der Rhythmus der Herde täglich mehr sein Leben bestimmte, aber diesmal wehrte er sich dagegen. Er verließ zwar am Morgen zusammen mit den Tieren die Höhle, führte sie wohl auch noch zu einem geeigneten Weideplatz, aber wenn sie dann mit den Vorderhufen das spärliche Futter aus dem Schnee scharrten, hielt er sich fern von ihnen, hockte sich irgendwo am Waldrand auf einen Baumstrunk und grübelte vergeblich darüber nach, wie er seine Lage ändern könne. Auch wusch er seinen Körper regelmäßig im Schnee, weil ihn der Ziegengeruch anwiderte, der sich in seinem zottigen Fell festsetzte, und zuweilen irritierte er eine Ziege damit, daß er sie zu ungewohnter Zeit molk, weil ihn eben der Appetit auf einen Schluck Milch überkam.
Auf diese Weise gelang es ihm, sich dem Herdentrieb zu widersetzen, der ihn besonders nachts auf magische Weise überkam, wenn die Tiere sich um das Feuer drängten oder ruhig atmend beieinander lagen. Aber zugleich wuchs in ihm das Gefühl der Einsamkeit. Manchmal versuchte er an das Mädchen zu denken, das schon zweimal vor ihm davongelaufen war; aber das flache, grüne Tal lag unerreichbar weit von ihm entfernt, und das Mädchen war ein ängstliches Kind, keine Gefährtin für einen zottigen Faun, der sich nur im Dickicht sicher fühlt.
Eines Tages erschien dann wieder der Falke am Himmel. Steinauge saß auf seinem Platz am Waldrand und versuchte sich einzubilden, daß die niedrig über den kahlen Baumwipfeln stehende Sonne noch ein wenig Wärme spendete. Da sah er den Falken hoch oben am blaßblauen Himmel heranschweben und über der verschneiten Lichtung seine Kreise ziehen. Obwohl aus dieser Entfernung nur die dunkle Silhouette des Vogels zu erkennen war, ahnte Steinauge, daß dies der grünäugige Falke sein mußte, und als der Vogel sich immer tiefer herabsinken ließ und dicht über ihn hinwegstrich, konnte Steinauge sehen, daß seine Ahnung ihn nicht getrogen hatte. Narzia besuchte ihn wieder, und trotz allem, was er von ihr erfahren hatte, überkam ihn ein Gefühl der
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