Stein und Flöte
so!« sagte der Zirbel. »Ohne die Hilfe anderer wärst du wahrscheinlich schon dorthin gekommen, wo du nur noch dich selbst siehst und nach keinem Ziel mehr fragst. Du hast es wirklich nötig, daß sich jemand um dich kümmert.«
»Meinst du mit diesem Jemand dich selbst?« fragte Steinauge. Allmählich fing er an, sich zu ärgern. Woher nahm dieses Stück Holz eigentlich das Recht, ihm auf so verletzende Weise seine Irrtümer und Fehler vorzuhalten? »Ich dachte, du könntest mich trösten«, fuhr er fort, »und statt dessen tust du mir weh.«
Der Zirbel lachte. »Du verstehst gar nichts«, sagte er. »Laß dir eine Geschichte erzählen: Ein Schnitzer suchte sich ein geeignetes Stück Holz aus, um einen Löffel daraus zu schnitzen. Als er das Messer ansetzte, schrie das Holz laut und sagte zu dem Messer: ›Laß das! Du tust mir weh!‹ Denn es wußte nicht, daß die Form eines Löffels in ihm verborgen war und ahnte nichts von der Hand, die das Messer führte und schon gar nichts von den Gedanken des Schnitzers.«
»Auf diese Weise bist du gemacht worden«, sagte Steinauge.
»So ist es«, sagte der Zirbel. »Und du hast den vergessen, der mich gemacht hat. Glaubst du denn, ich spreche von mir, wenn ich sage, daß sich jemand um dich kümmern muß? Hast du auch den Stein vergessen, den du am Hals trägst und der dich immer wieder davor zurückgehalten hat, völlig in die Irre zu gehen? Weißt du überhaupt, von wem er stammt?«
»Von Arni«, sagte Steinauge. »Das weiß doch jeder. Arni hat ihn mir gegeben, als er starb.«
»Und von wem bekam ihn Arni?« fragte der Zirbel.
»Von einer alten Frau mit Namen Urla«, sagte Steinauge.
»Und diese Urla?« fragte der Zirbel.
»Ihre Enkelin Rikka hat mir einmal davon erzählt«, sagte Steinauge. »Ich glaube, es war irgend ein Steinsucher, der ihn ihr geschenkt hat, als sie noch ein Kind war.«
»So«, sagte der Zirbel in einem Ton, als habe er es endgültig aufgegeben, sich über die Begriffsstutzigkeit dieses Waldfauns aufzuregen. »Irgend ein Steinsucher!«
»Du willst doch wohl nicht behaupten …«, sagte Steinauge, aber er begriff schon im gleichen Augenblick, daß es sinnlos war, diesen Satz zu Ende zu führen. Der Zirbel hatte ihn herübergelockt in einen Raum jenseits aller meßbaren Zeit, in einen Bereich, in dem Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sich ineinanderschob. Steinauge war zumute, als verlöre er den festen Boden unter den Füßen. »Nein!« sagte er, »nein!«
Der Zirbel betrachtete ihn spöttisch. »Jetzt bist du wohl ein bißchen verwirrt, du mit deinem spärlichen Zeitbegriff?« sagte er. »Ich sehe schon, daß du noch eine Weile brauchen wirst, bis du gelernt hast, daß deine Zeit samt dem Stück, das dir nicht einfallen will, noch lange nicht alles ist.«
»Was soll mir das nützen?« sagte Steinauge. »Du redest, als ob ich die Grenzen der Zeit sprengen könnte. Siehst du denn nicht, daß ich aus dem Käfig meiner Taten nicht mehr ausbrechen kann? Was ich begonnen habe, breitet sich dort draußen in der Steppe aus wie eine Krankheit, wächst und wuchert, und ich kann es nicht mehr ändern.«
»Du wohl kaum«, sagte der Zirbel.
»Wer denn sonst?« sagte Steinauge verzweifelt. »Dieser sonderbare Steinsucher vielleicht? Der ist seiner Wege gegangen und hat mich allein gelassen mit meiner Angst vor dem freien Himmel und vor all den Dingen, die ich nicht begreifen kann. Und du hilfst mir ja auch nicht besonders mit deinen klugen Reden. Von einem Stück Holz kann man wohl auch nicht mehr erwarten.«
Darauf erhielt er keine Antwort mehr. Der Zirbel war nun nur noch ein in sich verknäulter Knorren, so starr und leblos, daß Steinauge das Gefühl überkam, er habe die ganze Zeit über nur mit sich selbst geredet. Schließlich zog er den Stock aus dem Boden und machte sich auf den Weg.
Nach einer Weile fand sich auch das Wiesel ein, das inzwischen für einen Braten gesorgt hatte. Aber Steinauge blieb schweigsam, während sie miteinander durch den Wald wanderten, nicht nur an diesem Abend, sondern auch in den nächsten Tagen. So gelangten sie nach und nach wieder ostwärts, bis sie schließlich das Ende der großen Felswand erreichten.
»Sehr gesprächig warst du diesmal auf dem Heimweg nicht«, sagte das Wiesel, als sie sich verabschiedeten: »Es hat sich wohl doch nicht gelohnt, diese alten Sachen auszugraben, aber das habe ich dir ja gleich gesagt. Wer Aas frißt, wird krank davon. Denk nicht mehr darüber nach und komm gut
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