Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
jedem Schritt schwerer auf seinen Schultern lastete, bis es ihm kaum noch gelang, die Füße vom Boden zu lösen, während das Mädchen vor ihm leichtfüßig über die Steppe flog, sich rasch entfernte, immer kleiner und kleiner wurde, bis es nur noch als ferner, kaum wahrnehmbarer Punkt auf den Horizont zuglitt. Er bemühte sich verzweifelt, diesen verschwimmenden Punkt nicht zu verlieren, doch da lenkte ihn für einen Augenblick ein Schatten ab, den er neben sich eher spürte als sah, und dann, als er den Punkt wieder suchen wollte, lag der ferne Horizont leer. Nur dieser Schatten lauerte noch an seiner Seite, und es schien ihm jetzt, als sei er nicht eben erst aufgetaucht, sondern schon lange dagewesen. Vielleicht schon immer.
    Weil nun in der Ferne nichts mehr zu sehen war, wendete er sich dem Schatten zu. Da stand neben ihm ein merkwürdiger grauer Herr, den er bereits kannte. Er war wie immer sehr sorgfältig gekleidet, trug einen feinen grauen Anzug, graue Schuhe und Handschuhe; auch war nicht nur sein Haar grau, sondern auch sein nichtssagendes, gänzlich humorloses Gesicht.
    »Du versuchst in die falsche Richtung zu laufen, Steinauge«, sagte der graue Herr mit farbloser Stimme und verzog dabei keine Miene. »Merkst du nicht, daß du nicht vorankommst?«
    »Das habe ich schon gemerkt«, sagte Steinauge und versuchte dem Grauen in die Augen zu blicken. Aber dort, wo er eine graue Iris vermutet hatte, war nichts als Leere. Er wendete den Blick ab, um durch diese Löcher nicht ins Bodenlose gesaugt zu werden, und wiederholte: »Ich habe schon gemerkt, daß ich keinen Schritt weiterkomme. Doch wie soll ich dieses Mädchen sonst erreichen?«
    »Sollst du das?« sagte der Graue. »Ist das nicht nur ein Traumbild, eine Einbildung, der du nachläufst? Geh mit mir in die andere Richtung. Du wirst sehen, wie leicht dir jeder Schritt fallen wird.«
    Und wirklich, sobald er sich umgedreht hatte und anfing, Fuß vor Fuß zu setzen, schwand das bleierne Gewicht von seinen Schultern, und er kam so leicht voran, als wiege sein eigener Körper nicht mehr als eine Feder. Er spürte nicht einmal sein Herz klopfen, während er neben dem Grauen über das dürre Gras schritt. Nach einer Weile fragte er: »Wohin gehen wir!«
    »Du wirst schon sehen«, sagte der Graue. »Vielleicht wirst du jetzt endlich begreifen, daß du mir schon früher hättest folgen sollen.«
    Ohne daß er gemerkt hätte, wann sie die öde Steppe hinter sich gelassen hatten, stand er mit seinem Begleiter unversehens zwischen den Büschen vor der Felswand und im nächsten Augenblick auch schon in der Höhle. Die Ziegen lagen schlafend rings um die Herdstelle, innen die Jungtiere und im äußeren Kreis die älteren Tiere und der Bock.
    »Schau sie dir an, wie sie dumpf vor sich hinvegetieren«, sagte der Graue. »Willst du werden wie sie? Oder hast du noch einen Rest von Intelligenz in dir, um dich endlich einmal über dieses dumme Viehzeug zu erheben?«
    »Ich bin auf diese Tiere angewiesen«, sagte Steinauge.
    »Wie du das schon sagst!« Der Graue gab sich keine Mühe, seine Verachtung zu verbergen. »Ist es nicht eher so, daß du dich ihrer bedienst? Wer bist du denn, daß du diese blöden Grasfresser um etwas bitten müßtest? Hast du vergessen, daß du dazu bestimmt bist, Macht auszuüben? Es wird Zeit, daß du dich darauf besinnst!«
    »Ich habe meine Flöte verloren«, sagte Steinauge und spürte, wie ihn die Begierde überkam, seine Silberflöte an die Lippen zu setzen und die Zuhörer unter seinen Willen zu zwingen.
    »Du hast sie liegen lassen«, berichtigte ihn der Graue. »Hol sie dir doch zurück!«
    »So wie ich jetzt aussehe?« sagte Steinauge.
    »Genierst du dich?« sagte der Graue spöttisch. »Näh dir Hosen, wenn du Angst hast, daß dich die Leute auslachen. Nimm dein Messer und schlachte eine Ziege. Ihr Fell wird sicher reichen, um deine Schande zu bedecken.«
    Im nächsten Augenblick hatte Steinauge schon sein Messer in der Rechten und kniete über einem der Tiere. Während er die Finger in das Fell krallte, dachte er an nichts anderes, als daß er zurückkehren mußte in das Haus bei Arnis Hütte, um seine Flöte zu holen. Mit ihr würde er alles erreichen, was er sich wünschte, und jeden gefügig machen, der sich ihm widersetzte. Auch dieses Mädchen, das sich ihm immer wieder entzog. »Ich muß sie haben!« murmelte er vor sich hin, »ich muß sie haben!«, wußte nicht, ob er die Flöte meinte oder das Mädchen, stach auf das zuckende

Weitere Kostenlose Bücher