Stein und Flöte
Stein?«
Die Sehnsucht, die Grenzen seiner Einsamkeit zu überschreiten, die Begierde, diesen Körper zu umarmen, ließen ihm keine Wahl. Blindlings griff er nach dem Beutel an seinem Hals, nahm den Stein heraus und legte ihn in Narzias ausgestreckte Hand. Ihre Finger schlossen sich um den Stein, und da sah er den Smaragd des Falkenrings aufblitzen. Zugleich zerriß der letzte Vorhang, der seine Erinnerung umhüllt hatte, und er wußte, was schon einmal geschehen war und was jetzt geschehen würde. Noch einmal warf der grüne Blitz ihn zurück an die Wand, noch einmal hörte er Narzias Stimme gellen: »Sei ein Tier!«, noch einmal durchzuckte seinen Leib dieser eisige Schmerz, der ihn verwandelt hatte zu jenem zottigen Bockswesen, das er jetzt war.
Als der Schmerz abgeebbt war, und Steinauge wieder imstande war, seine Umgebung wahrzunehmen, sah er auf dem Baumstumpf wieder den Falken sitzen, der den Stein in einer seiner Klauen umklammert hielt. »Du hast mich betrogen, Narzia«, sagte Steinauge. Doch der Falke lachte nur. »Wieso betrogen?« sagte er mit seiner hellen Stimme. »Hast du nicht alles erfahren, was du vergessen hattest? Weißt du jetzt nicht, was dich erwartet? Soll ich es dir noch einmal sagen? Ein Leben, nicht als Mensch und nicht als Tier, sondern als ein Zwischenwesen, ein Fremdling für die Ziegen und erschreckend für die Menschen. Männer werden sich entsetzt von dir abwenden und Frauen vor dir fliehen aus Abscheu vor dem Gezottel an deinen Lenden.«
»Warum bist du so grausam?« fragte Steinauge. »Auch als ich noch ein Mensch war, hat dich meine Nacktheit angeekelt.«
»Ja«, sagte der Falke. »Ich habe nur sichtbar gemacht, was schon in dir verborgen war, du geiler Bock! Hast du denn geglaubt, ich würde die Macht meiner Magie deiner Begierde preisgeben? Soll ich zulassen, daß deine tierische Natur Gewalt über mich gewinnt?«
»Wenn du mich schon für ein Tier hältst, dann will ich auch ein Tier sein«, sagte Steinauge. »Warum hast du nur halbe Arbeit geleistet?«
»Dein Stein hat mich daran gehindert«, sagte der Falke. »Jetzt, wo er nicht mehr auf deiner Brust hängt, könnte ich dich ganz zum Tier machen, aber ich will dich so leben lassen, du halber Bock, damit du nicht vergißt, was du sein könntest und doch nie sein wirst. Es müßte dich schon eine, so wie du bist, in die Arme nehmen, um meinen Zauber zu brechen. Du kannst ja versuchen, ob ein Mädchen Lust dazu hat.«
Nach diesen Worten breitete der Falke seine Schwingen aus und schraubte sich hinauf in den blassen Winterhimmel.
»Du wirst keine Freude an dem Stein haben!« schrie Steinauge zu ihm hinauf. »Weißt du nicht, daß er jeden ins Unglück stürzt, der ihn mit Gewalt oder List an sich bringt?«
Aber der Falke hörte nicht auf diese Warnung. Er zog einen Kreis über der Lichtung, und als er über die kahlen Wipfel nach Süden abzog, sah Steinauge den Stein noch einmal in den Fängen aufblitzen. Dann verlor er den Vogel aus den Augen.
Für den Rest des Winters verfiel Steinauge in trostlose Grübelei. Er verließ kaum noch seine Höhle, lag oft tagelang apathisch auf seiner Laubstreu und suchte in dem trägen Brei seiner Erinnerung nach irgendeinem festen Punkt, der ihm eine Handhabe bieten könnte, sich aus dieser ausweglosen Lage zu befreien. Er wußte nun wieder alles, was sich in den vergangenen Jahren ereignet hatte, aber das erhöhte nur noch seine Qual; denn während er diese Ereignisse immer aufs neue an sich vorbeitreiben ließ, erkannte er zugleich, wie er Schritt für Schritt immer weiter in die falsche Richtung gegangen war und die Gaben mißbraucht hatte, die ihm anvertraut worden waren. Auf diese Weise hatte er die Flöte verloren und nun auch noch den Stein. Je tiefer er sich in seine Vergangenheit hineinwühlte, desto mehr schwand ihm jede Hoffnung.
Nur seinen Namen wußte er noch immer nicht, und er zermarterte Tag und Nacht sein Hirn mit der Frage, wie ihn die Leute früher genannt hatten, lallte sinnlose Silben vor sich hin und lauschte ihrem Klang nach, als könne er auf diese Weise die Zauberformel finden, die ihn, wenn er sie nur ausspräche, aus diesem Bann befreien würde.
So ging es ihm bei Tag, und in der Nacht verfolgten ihn böse Träume. Da sah er wieder die unbeschreibbaren Augen des Mädchens, das ihn entsetzt anblickte, sich abwandte und davonlief, und er lief ihm nach, lief und lief über dürres, raschelndes Steppengras unter einem kahlen, bleiernen Himmel, dessen Gewicht mit
Weitere Kostenlose Bücher