Stein und Flöte
ich kann dir versichern, daß sie auf nichts anderes bedacht ist als auf ihren Vorteil. Es könnte allerdings sein, daß es unter Arnis Leuten auch Männer gibt, die sich noch daran erinnern, wie Arni mit Menschen umgegangen ist. Man hat mir allerdings auch zugeraunt, daß manche von ihnen plötzlich verschwunden seien. Es gibt dort bei Arnis Hütte böse Gerüchte.«
»Begreifst du jetzt, warum ich Angst habe?« sagte Wazzek. »Wenn der Name eines solchen Mannes dermaßen mißbraucht wird, braut sich Unheil zusammen. Ihr solltet alle auf der Hut sein.«
»Das werde ich, Wazzek«, sagte der Bärtige. »Aber jetzt muß ich mich auf den Weg machen, wenn ich noch vor Mitternacht nach Hause kommen will.« Während sich der Bärtige von den Hirten verabschiedete, knöpfte Wazzek sein Wams auf und zog einen kleinen Gegenstand hervor, der an einer Schnur um seinen Hals hing. Er streifte die Schnur über den Kopf, trat mit einer gewissen Feierlichkeit vor den Bärtigen hin und sagte: »Du wirst dem Unheil, wenn es kommen sollte, näher sein als ich. Nimm das hier. Es wird dich vielleicht schützen, vor allem dann, wenn du nahe am Wasser bist.«
»Nahe am Wasser?« fragte der Bärtige verständnislos und nahm die Schnur in die Hand. »Was ist das für ein Ding?«
Steinauge sah ein dünnes, durchscheinendes Blättchen im Licht der Sonne aufblitzen und wußte im gleichen Augenblick, schon ehe er die Antwort auf die Frage hörte, was für ein Ding das war.
»Eine Schuppe des Großen Karpfens«, sagte Wazzek. »Wer sie bei sich trägt, wird seine Hilfe finden, wenn er sich in die Arme des Wassers wirft. Trage sie um den Hals. Selbst in der Hitze der Steppe habe ich ihre Kühlung gespürt, als ich zerschlagen unter der Sonne lag. Hier werde ich sie nicht mehr so nötig brauchen. Der Große Alte hilft seinen Kindern auch ohne dieses Zeichen.«
Der Bärtige betrachtete die Schuppe noch eine Weile, dann streifte er die Schnur über den Kopf, umarmte Wazzek zum Abschied, stieg auf sein Pferd und ritt davon. Die anderen winkten ihm nach und gingen miteinander über die Wiesen hinüber zu den Hütten.
Steinauge blieb hinter den Büschen liegen, selbst als Wazzek und die Hirten längst nicht mehr zu sehen waren. Er blickte ihnen auch nicht nach, sondern sah noch immer die Schuppe in der Sonne flimmern. Oder war es nur ein blakendes Flämmchen, das sich in ihr spiegelte, das schwache Licht einer Öllampe, das die Zeltwände aus schwarzbrauner Wolle kaum erreichte und das flache Gesicht der Sklavin, die vor ihm stand, von der Seite beleuchtete, daß es nur zur Hälfte aus dem Dunkel heraustrat? Er sah ihre wasserhellen Augen und erinnerte sich, und diese Erinnerung breitete sich aus wie Wellenringe auf dem Fluß, wenn ein Karpfen mit seinen Schuppen die Oberfläche berührt hat. Erst war da nur diese Schuppe gewesen, dann das Zelt und die Sklavin, das Lager der Beutereiter, der Khan, den er im Schach besiegt hatte, ohne zu wissen, wie das geschehen war. Er sah das schweißnasse Gesicht Khan Hunlis vor sich, hörte ihn sagen: »So kann nur Arni spielen!« und da tauchte auch schon Narzias nächtlicher Zauber aus der Vergessenheit und damit alles, was sich seit seiner Ankunft bei Arnis Leuten ereignet hatte, auch seine Reise nach Arziak zu Promezzo, dessen Frau die gleichen Augen hatte wie jenes Gesicht, das zuweilen in seinen Träumen auftauchte und zu ihm sprach; auch ihre Tochter hatte ihn lachend aus diesen Augen angeschaut, jenes Mädchen, das er nun schon zweimal in diesem Tal getroffen hatte. Aber ihr Name fiel ihm noch immer nicht ein.
»Worauf wartest du noch?« fragte das Wiesel. »Es ist niemand mehr da, vor dem du dich verstecken müßtest.«
Steinauge gelang es nur mit Mühe, sich von den Erinnerungsbildern zu lösen. Er blickte verwirrt um sich, als habe er völlig vergessen, wo er sich befand. »Ach, Nadelzahn«, sagte er dann langsam, »am liebsten würde ich mich vor mir selber verstecken, nachdem mir jetzt wieder einiges von dem eingefallen ist, was ich früher getan habe.«
»Weißt du nun endlich, ob du ein Flöter gewesen bist?« fragte das Wiesel.
Steinauge nickte langsam. »Ja«, sagte er, »ich war einer. Aber ich habe falsch gespielt.«
Das Wiesel schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein von diesem Bekenntnis. »Nun siehst du ja, daß es sich nicht lohnt, die Knochen längst verdauter Beutetiere aus dem Boden zu graben«, sagte es. »Sie machen nicht satt, sondern nur traurig. Vergiß diese alten
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