Stein und Flöte
Vertrautheit. Noch immer konnte er sich nicht erinnern, was er mit dem Menschen zu tun gehabt hatte, der sich unter dem Gefieder dieses Falken verbarg, und doch klopfte sein Herz bis zum Halse, wenn er auch nicht hätte sagen können, ob aus Angst oder vor Erregung, wie bei einer unvermuteten Begegnung mit der Geliebten. Vielleicht hatte er alles mißverstanden, was er bisher über dieses Falkenmädchen gehört hatte; vielleicht hatten andere nur aus Neid oder aus Haß so schlecht von diesem Wesen gesprochen, das hier so schwerelos über die Lichtung glitt, schön, geheimnisvoll und voller Rätsel, deren Lösung den Gewinn unsagbarer Dinge versprach.
Der Falke schwang sich noch einmal in die Höhe, glitt wieder heran, gefolgt von seinem schwarzen Schatten, der unter ihm über die glitzernde Schneefläche huschte, und ließ sich dann flügelschlagend auf einem Baumstumpf nieder. Eine Zeitlang starrte er mit seinen grünen Augen in Steinauges Gesicht. Dann öffnete er den Schnabel und sagte mit seiner hellen Mädchenstimme: »Du bist einsam, Faun. Wollen deine Ziegen nichts mehr mit dir zu tun haben?«
Steinauge schüttelte den Kopf. »Die Ziegen sind wie eh und je«, sagte er. »Ich habe ihre Gesellschaft satt, ihr ewiges Geschwätz und ihren geilen Geruch.«
»Aber er sticht dir in die Nase«, sagte der Falke. »So geht es einem, wenn man allein ist. Läufst du noch immer deiner Vergangenheit nach?«
»Sie holt mich Schritt für Schritt ein wie ein Rudel Wölfe und frißt an meiner Seele«, sagte Steinauge.
»Du machst dir zu viele Gedanken«, sagte der Falke sanft. »In der Einsamkeit gerät man ins Grübeln und sieht alles von seiner dunklen Seite. Du solltest die schlimmen Dinge vergessen und nur das Angenehme im Gedächtnis behalten.«
»Dann erzähle mir endlich, was in meiner Vergangenheit angenehm gewesen sein soll«, sagte Steinauge. »Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.«
»Wie schade«, sagte der Falke. »Da gäbe es schon einiges zu berichten. Erinnerst du dich denn überhaupt nicht mehr an das Falkenmädchen, das dir zur Frau versprochen war?«
Steinauges Herz machte einen Sprung, als er das hörte. »Sprichst du von dir?« fragte er begierig. »Warst du mir zur Frau versprochen? Ich erinnere mich an alles mögliche, nur nicht an die Dinge, die mit dir zu tun haben. Willst du mir nicht helfen, sie wiederzufinden?«
»Du kennst den Preis«, sagte der Falke. »Willst du den Stein noch immer für dich behalten?«
»Den Stein?« sagte Steinauge. »Und was soll ich dafür bekommen? Noch ein paar von den Erinnerungen, die mir den Schlaf rauben?«
Da lachte der Falke hell auf und sagte: »Ich werde dir ein Stück von dem zeigen, was dich erwartet. Schau mich an!«
Obgleich der Falke ruhig auf seinem Platz sitzenblieb, schien es Steinauge, als rückten die grünen Augen immer näher heran, wurden größer und größer, bis sie sein Blickfeld völlig ausfüllten. Er tauchte ein in diese flimmernde grüne Tiefe, aus der das schmale, hellhäutige Gesicht eines grünäugigen Mädchens heraufstieg, und vom einen zum andern Augenblick befand er sich an der Seite dieses Mädchens an einer Tafel, die überladen war von köstlichen Speisen. Er spürte den Geschmack von Wein auf der Zunge, nahm im trunkenen Nebel ringsum die erhitzten Gesichter von Leuten wahr, die lautlos lachten und vergnügt aufeinander einredeten, aber dann sah er nur noch die grünen Augen des Mädchens, das langsam aufstand und ihn mit einem kaum merklichen Nicken aufforderte, ihm zu folgen. Sein Herz zog sich jäh zusammen, daß ihm das Blut in den Ohren rauschte, als er selbst aufstand und dem Mädchen nachging, das vor ihm durch dunkle Gänge glitt, ein wehendes Gewand, das ihm hinter einer Biegung aus den Augen geriet und dann wieder auftauchte und verharrte. Als er das Mädchen erreichte, stand es in einer halbgeöffneten Tür und forderte ihn mit einer Geste seiner erhobenen Hand auf, hier zu warten. Dann trat es ein und ließ die Tür angelehnt. Eine Zeitlang ertrug er die Qual des Wartens, und als dies endlich über seine Kräfte ging, stieß er die Tür auf und trat ein. Im schwachen Kerzenlicht sah er das bauschige Leinenzeug eines Bettes, und darauf lag das Mädchen in einem hauchfeinen Gewand, das die Verlockung des Körpers eher entblößte als verbarg. Als er seine Kleider hastig abgestreift hatte und auf das Bett zutrat, blickte ihm das Mädchen entgegen, streckte seine Hand aus und sagte: »Gibst du mir jetzt den
Weitere Kostenlose Bücher