Stein und Flöte
Fleisch unter dem Fell ein und hatte dabei schon völlig vergessen, in welchem Zusammenhang diese blutige Metzelei mit seiner Gier stand, die Macht der Flöte zurückzugewinnen. Er wußte nur noch, daß dieses Schlachtopfer dargebracht werden mußte. Etwas Lebendiges mußte sterben, und das Blut, das über seine Hände spritzte, würde ihm seine Macht zurückkaufen. Er sah, wie es rot aus den klaffenden Wunden heraufquoll und in Bächen über das Fell rann, bis alles überströmt war von Blut, eine träge quirlende, purpurne Flut, die stieg und stieg und ihm schon bis zum Hals stand, bis zu den Lippen, und er schrie, wie ein Ertrinkender schreit, der jede Hoffnung auf Hilfe aufgegeben hat.
Erst als er das schrille, vielfach gebrochene Echo wahrnahm, das ihm antwortete, hörte er auf zu schreien. Er fand sich in undurchdringlicher Finsternis und spürte unter sich das knisternde Laub seines Lagers. Und dicht in der Nähe hörte er die Ziegen aufgeregt durcheinander meckern. Sie mußten sich unmittelbar unter der Felskante neben seinem Lager zusammengedrängt haben und schienen außer sich zu sein vor Entsetzen. »Steinauge!« rief eine von ihnen. »Warum schreist du so? Bist du krank?«
Er kroch zu dem Abbruch hinüber, unter dem die Tiere standen und versuchte sie zu beruhigen. »Ich habe schlecht geträumt«, sagte er. »Es war gut, daß ihr mich geweckt habt.« Während er sprach, langte er mit der Hand hinunter ins Dunkel, aus dem der warme Dunst der Tiere zu ihm heraufstieg, und kraulte das erstbeste Fell, das ihm unter die Finger kam. »Es tut mir leid, daß ich euch erschreckt habe«, sagte er. »Geht jetzt wieder schlafen.«
Aber so leicht ließen sich die Ziegen nicht beruhigen. Er fühlte, wie feuchte Mäuler an seiner Hand schnoberten und rauhe Zungen den Angstschweiß von seiner Haut leckten. Oder war es noch das Blut, das über seine Finger gespritzt war? Das Traumbild hatte noch immer Gewalt über ihn, und er spürte noch den Griff des Messers in der gleichen Hand, der jetzt die besorgten Liebkosungen der Ziegen galten. »Keine Angst«, sagte er, »ich tue euch nichts zuleide.« Doch damit verstörte er die Tiere nur noch mehr.
»Er redet irre!« riefen manche, und andere jammerten: »Er ist krank! Sein Schweiß schmeckt bitter!« Sie kamen erst wieder zur Ruhe, als er aufgestanden und zu ihnen hinuntergestiegen war. Er fachte das Feuer an, und als die Flammen hell aufloderten, sagte er: »Seht ihr jetzt, daß mir nichts fehlt?«
Die Tiere drängten sich um ihn, als wollten sie sich davon überzeugen, und eines von ihnen sagte: »Warum redest du dann solchen Unsinn? Du bist unser Ernährer! Warum solltest du uns dann etwas zuleide tun?«
»Ja«, sagte er, »warum sollte ich das?« und war sich bewußt, daß er sich das selber fragte. Er war sich durchaus nicht im klaren, ob es nicht doch einen Grund gegeben hatte, sein Messer in eines dieser Felle zu stoßen, obwohl er sich jetzt nicht mehr vorstellen konnte, eins dieser sanften Tiere zu töten. Er schüttete den Ziegen ein bißchen Futter vor; denn nichts wirkt beruhigender, als etwas zum Beißen zwischen die Zähne zu bekommen. Dann stieg er wieder hinauf zu seinem Schlafplatz und legte sich nieder. Über ihm flackerte der Widerschein des niederbrennenden Feuers auf der zerklüfteten Höhlendecke, und es kam ihm so vor, als senke sich der Felsen langsam auf ihn herab, um ihn zu erdrücken. Nur der Zirbel an seiner Seite schien von alledem nichts zu bemerken, sondern blickte gleichmütig mit seinem dunklen Auge in eine unendliche Ferne jenseits der Höhlenwände.
»Ich habe Angst, Zirbel«, sagte Steinauge. »Ich habe Angst, nie mehr aus diesem engen Felsenloch herauszufinden.«
»Wundert dich das?« sagte der Zirbel. »Seit du deinen Stein nicht mehr trägst, kann die Angst ungehindert nach deinem Herzen greifen. Warum hast du ihn abgelegt?«
»Ich habe ihn nicht mehr«, sagte Steinauge. »Der Falke hat ihn mir gestohlen.«
»Gestohlen?« fragte der Zirbel in einem Ton, als wisse er es besser.
»Nun ja«, sagte Steinauge. »Narzia hat mich überlistet.«
»Ich kann mir schon denken, wie sie das angefangen hat«, sagte der Zirbel. »Aber der Stein wird ihr nichts Gutes einbringen. Und irgendwann wird er zu dir zurückkehren.«
»Irgendwann!« sagte Steinauge bitter. »So wie meine Flöte, die ich bei Arnis Leuten liegengelassen habe.«
»Ja«, sagte der Zirbel. »So wie deine Flöte. Solche Dinge kehren immer zu dem zurück, der sie in
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